Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
entwickeln konnte, aber um das zu beurteilen, war es zu früh.
4
Das entfernte Grollen, das wie eine Botschaft des Windes geklungen hatte, war verstummt.
Aber es herrschte eine extrem hohe Luftfeuchtigkeit, die sie augenblicklich einhüllte und ihr das Haar an den Wangen kleben ließ. Die Atmosphäre schien in ihrem eigenen Saft zu schmoren und dampfte vor Hitze. Der Taifun würde sehr bald die Küste erreicht haben, und Masako sorgte sich um das Wetter am kommenden Morgen. Sofort stellte sie das Autoradio an und suchte nach einem Sender, der gerade den Wetterbericht durchgab, doch sie erreichte den Fabrikparkplatz, bevor es ihr gelungen war.
In einer Ecke hatte man dort gerade mit den Bauarbeiten zu einer kleinen Hütte aus Fertigteilen begonnen, was wohl eine Art Wachhäuschen werden sollte. Masako nahm es wahr, aber ihre Aufmerksamkeit wanderte sofort wieder zu der anderen Sache zurück, die ihr Bewusstsein beherrschte: dem »Geschäft«, das Jūmonji ihr angeboten hatte. Viel schneller, als sie noch hatte erahnen können, war sie in eine andere Welt katapultiert worden. Und es machte ihr sogar Spaß, wie ihr Gut oder Böse, Erfolg oder Misslingen gleichgültig wurden und der Nervenkitzel die gewohnte
Parkplatzlandschaft vor den Augen aus ihrem Bewusstsein verjagte.
Als sie sich im Eingang zur Fabrik die Turnschuhe von den Füßen streifte, stand da eine fremde Frau.
»Guten Morgen, Masako-san!«
Da ihr die Stimme bestens bekannt war, hob sie verwundert den Blick: Es war Yayoi. Sie sah völlig verändert aus. Das schulterlange Haar hatte sie sich zu einer Kurzhaarfrisur schneiden lassen, die ihren langen Nacken freigab; ihre Augenbrauen waren nachgezogen, so dass sie Kontur bekamen, und sie hatte dunklen Lippenstift aufgelegt. Die unentschlossene, müde Weichheit von früher war einem angenehm frischen, jungenhaften Ausdruck gewichen.
»Mensch, hast du dich verändert! Ich hab dich erst gar nicht erkannt!«
»Das sagen alle«, erwiderte Yayoi und neigte verlegen den Kopf. Diese Geste war gleich geblieben, aber etwas wie Selbstbewusstsein kam hinzu, was sie wie verwandelt wirken ließ. »Aber bist du heute nicht auch ein wenig geschminkt?«
»Wie bitte?«
»Ja, du hast doch Lippenstift aufgelegt!«
Masako hatte schon ganz vergessen, dass sie sich auf der Toilette im Royal Host die Lippen geschminkt hatte. Sie fuhr sich mit der Hand an den Mund, und sofort klebte ihr etwas Fettiges, Rotes an den Fingern.
»Nicht, du verwischst ja alles!«, rief Yayoi und hielt ihr die Hand fest. »Du siehst gut aus, lass es so.«
»Kommst du von heute an wieder arbeiten?«
»Nein, heute bin ich nur auf einen Sprung hergekommen, um mich beim Chef, bei Herrn Komada und so weiter für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Ich hab ihnen eine Schachtel Pralinen vorbeigebracht.«
»Dann gehst du also jetzt wieder nach Hause?«
»Für heute ja. Schließlich ist ein Taifun im Anmarsch, gegen Morgen soll er das Kantō-Gebiet erreichen, und den Kindern hab ich versprochen, dass ich bald wieder da bin, sie warten schon.«
»Ja, das ist sicher besser so.«
»Außerdem – hier, den beiden anderen hab ich’s schon gegeben«,
flüsterte Yayoi ihr rasch ins Ohr und drückte ihr einen dicken braunen Briefumschlag in die Hand.
»Was ist denn das?«
Anstatt zu antworten, verbeugte Yayoi sich tief vor ihr.
»Ab morgen komme ich wieder normal zur Arbeit. Bis dann!«, sagte sie nur noch und war schon an Masako vorbei nach draußen verschwunden. Ihre Worte, ihr Verhalten, alles war lebendig, flink und energisch, ganz anders als die alte Yayoi.
Masako folgte ihr rasch. Mit federnden Schritten lief sie gerade die mit grünem Kunstrasen ausgelegten Stufen der Außentreppe hinunter. »Warte!«
Yayoi drehte sich unbeschwert zu ihr um.
»Was ist das?« Masako wedelte mit dem braunen Briefumschlag, worauf Yayoi zwei Finger hob. Die versprochenen zwei Millionen, sollte das wohl heißen. Leise fragte Masako: »Hast du denn die Versicherungssumme schon ausbezahlt bekommen?«
Yayoi schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein, noch nicht. Ich hab’s mir von meinen Eltern geliehen, hab ihnen erzählt, ich müsste Schulden zurückzahlen. Ich wollte euch das Geld so schnell wie möglich geben, damit ich das aus dem Kopf habe.«
»Ist das nicht etwas früh?«
»Nein, ist schon okay. Kuniko hat schon Druck gemacht, und die Meisterin kann es dringend gebrauchen, da wollte ich sie nicht länger warten lassen. Immerhin sind
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