Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
öffnete die Wagentür und stieg aus. Ohne ihr nachzusehen, legte Masako den Rückwärtsgang ein und setzte aus der engen Straße heraus. Mit lautem Knall fiel die Haustür hinter der wütenden Yayoi ins Schloss.
2
Kuniko kroch am späten Nachmittag aus den Federn und schaltete als Erstes den Fernseher ein. Dann aß sie das Lunchpaket aus der Fabrik, das sie sich im 24-Stunden-Laden um die Ecke besorgt hatte.
Rippchen auf koreanische Art – eindeutig vom Band nebenan hergestellt. So, wie das Fleisch aufgegeben war, konnte es nur eine Neue gewesen sein, freute sich Kuniko. Anfänger hatten Schwierigkeiten,
der Bandgeschwindigkeit zu folgen, deshalb blieb ihnen oft keine Zeit, die Fleischscheiben aufzufächern. Das war der Grund, warum Kuniko in ihrem Lunchpaket eine viel größere Portion ineinander gedrehter Rindfleischscheiben als üblich vorfand.
Heute musste ihr Glückstag sein, das zeigte allein schon die Tatsache, dass sie dieses Lunchpaket erwischt hatte. Bester Laune zählte Kuniko die Fleischscheiben: ganze elf Stück. Tja, da hatte der gute Nakayama wohl nicht gründlich genug gemeckert, lachte sie sich ins Fäustchen. An Tagen, an denen die Meisterin das »Fleischglätten« übernommen hatte, war jede Portion Reis mit exakt sechs, fein säuberlich aufgefächerten Rippenscheiben abgedeckt.
Apropos Yoshië: Sie schien ja in letzter Zeit direkt aus dem Vollen zu schöpfen, und das ließ Kuniko keine Ruhe. Plötzlich faselte sie davon, ihre Tochter aufs College zu schicken, und dass sie auf der Suche nach einer neuen Wohnung sei. Von den läppischen fünfhunderttausend, die sie von Yayoi bekommen hatte, konnte man sich beides unmöglich leisten. Wenn’s hoch kam, würde man davon mit Ach und Krach umziehen können.
Ob sie doch etwas gespart hatte? Nein, schüttelte Kuniko den Kopf, vollkommen unmöglich. Sie wusste, wie Yoshië immer hatte knapsen müssen. Da war es ja noch besser, tot zu sein, als in solch bitterer Armut zu leben, fand Kuniko, die insgeheim auf Yoshië heruntersah. Nein, irgendetwas stimmte da nicht. Kuniko, die nur wenn es um Geld ging einen ausgezeichneten Riecher hatte, legte den Kopf schief.
Die Fantasie beflügelte ihren Argwohn. Womöglich hatte Yayoi Yoshië heimlich mehr als die vereinbarten fünfhunderttausend zugesteckt. Als diese fixe Idee einmal in ihrem Kopf war, gab es kein Halten mehr. Kuniko, der das Glück anderer grundsätzlich ein Dorn im Auge war, fühlte sich benachteiligt, und das stachelte ihre Einbildungskraft einmal mehr an. Sie beschloss, Yoshië, nein, Yayoi gehörig in die Mangel zu nehmen, wenn sie sie gleich in der Fabrik treffen würde. Mit aller Kraft brach sie die Wegwerfstäbchen, die ihre Schuldigkeit getan hatten, entzwei und schmiss sie in die leere Schachtel.
Von ihrem Geld waren noch ungefähr hundertachtzigtausend übrig. Kuniko grinste zufrieden, als sie daran dachte. Von dem
Rest hatte sie die Zinsen ihrer verschiedenen Kredite bezahlt und sich eine rote Lederjacke, einen schwarzen Rock und einen violetten Pullover gekauft. Stiefel hätte sie eigentlich auch gerne gehabt, aber diesem Wunsch hatte sie heroisch widerstanden und sich stattdessen ein paar Kosmetikartikel zugelegt. Trotzdem waren noch hundertachtzigtausend übrig geblieben. Was konnte schöner sein? Ein Glück auch, dass die Zahlungen an Jūmonji nun wegfielen, das kam ihr wie gerufen.
Kuniko interessierte es nicht die Bohne, warum Jūmonji das bewusste Geheimnis hatte erfahren wollen und wofür er dieses Wissen verwendet hatte. Solange sie selbst aus der Schusslinie blieb, war ihr das schnurzpiepegal. Bisweilen hatte sie es mit der Angst zu tun bekommen, ob sie nicht auch verhaftet werden würde, falls das Geheimnis ans Licht käme, doch inzwischen, seit dieser Inspektor sich kein einziges Mal mehr hatte blicken lassen, kümmerte sie das nicht mehr.
Für Kuniko war die Zerstückelung Kenjis längst ferne Vergangenheit. Sobald sie diese Sache aber für sich nutzen konnte, war sie ohne Skrupel bereit, genau das zu tun, ob es nun darum ging, jemanden unter Druck zu setzen, zu erpressen, oder was auch immer. Alles andere interessierte sie nicht.
Kuniko warf die Lunchpaketschachtel in den Mülleimer, wusch sich durchs Gesicht und begann, sich vor dem Spiegel für die Fabrik zu schminken. Sie riss den frisch erstandenen Lippenstift aus der Verpackung und trug ihn auf. Ein Braunton aus den aktuellen Herbstfarben. Sie hatte sich auf Empfehlung der Verkäuferin dafür entschieden,
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