Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
gestern Nacht in der Dunkelheit hatte sie sein Gesicht nicht so genau sehen können.
Der Mann schlug die Klappe eines der schmuddeligen, hölzernen Postkästen zu, die von den Kindern der Vormieter mit Stickern voll geklebt worden war, und wandte sich Kuniko zu. Von vorne sah sein Gesicht gar nicht übel aus. Sein Teint war dunkel, und eine mysteriöse Gefährlichkeit ging von ihm aus. Kunikos Herz geriet in Aufruhr. Das Glück, das ihr das Rippchen-Lunchpaket verheißen hatte, hielt also noch an.
»Kommen Sie immer erst um diese Zeit nach Hause?«, sagte der Mann mit Blick auf seine Armbanduhr, ein billiges Digitalmodell, als würde er von Kunikos geheimen Gedanken nicht das Geringste erahnen. »Ein harter Job, den Sie da haben!«
»Schon, aber Ihnen dürfte es doch kaum anders gehen, oder?«
»Nun ja, ich habe gerade erst angefangen, da kann ich das noch nicht so richtig einschätzen.« Der Mann neigte den Kopf und sah mit müdem Gesicht nach draußen, während er eine Schachtel Zigaretten aus der Jackentasche zog. Spät, denn es war bereits Anfang November, ging gerade zaghaft die Sonne auf. »Ganz schön gefährlich für eine Frau im Winter, wenn es so lange dunkel bleibt.«
Kuniko brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass sie ja schon bald mit der Nachtschicht aufhören würde. »Ach, daran bin ich mittlerweile gewöhnt.«
»Ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt! Satō ist mein Name.« Der Mann senkte die Hand, in der er die Zigarette hielt, und verbeugte sich höflich. Hastig tat Kuniko es ihm nach.
»Ich heiße Kuniko Jōnouchi und wohne im vierten Stock.«
»Das trifft sich ja gut. Dann auf gute Nachbarschaft!« Satō lachte mit unverhohlener Freude und zeigte seine gesunden wei ßen Zähne.
»Ja, auf gute Nachbarschaft! Wohnen Sie mit Ihrer Familie hier?«
»Nein, nein«, murmelte Satō. »Um ehrlich zu sein: Ich bin geschieden und lebe allein.«
Geschieden! In Kunikos gierigen Augen ging ein Leuchten auf. Doch Satō schien es nicht zu bemerken; er blickte zur Seite, so als schäme er sich, über sein Privatleben gesprochen zu haben.
»Ach so. Nun, ich bin froh darüber. Ich bin auch allein, wissen Sie.«
Satō sah sie mit ungläubigen Augen an. Lag nicht auch Freude darin? Und Begehren? Kuniko war glücklich. Heute würde sie Shoppen gehen und sich die Stiefel, das Kostüm und eine goldene Halskette kaufen, nahm sie sich vor. Dann schaute sie an Satō vorbei auf die Nummer auf dem Postkasten, den er vorhin zugemacht hatte: Apartment 412.
3
Irgendetwas störte sie. Während Masako das Bad putzte, versuchte sie herauszufinden, was es war, aber sie konnte einfach keine Antwort finden.
Mit dem Schwamm rubbelte sie die Baderänder von der Wanne und brauste den Schaum mit der Dusche ab. Weil sie wohl nicht ganz bei der Sache war, rutschte ihr der Duschkopf aus der Hand und prallte am Wannenrand ab, bevor er mit lautem Getöse auf die Fliesen fiel. Kaltes Wasser spritzte Masako ins Gesicht und über den Körper. Sie fing den sich durch den Wasserdruck wie eine Schlange hin- und herwindenden Brausekopf ein und hielt ihn fest. Von den nassen Armen und Beinen kroch ihr die Kälte bis ins Mark.
Seit kurz nach Mittag regnete es, und die Temperatur war rapide gesunken. Ein kalter Tag, so wie er für Ende Dezember normal gewesen wäre. Masako fuhr sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts durch das nasse Gesicht und machte das offen stehende Fenster zu, durch das die Kälte und das Prasseln des Regens hereindrangen. Benommen verharrte sie auf den eiskalten Badezimmerfliesen, sah an ihrer pitschnassen Kleidung herunter und verfiel dabei ins Grübeln.
In dünnen Rinnsalen floss das Spritzwasser auf den trockenen Fliesen Richtung Abfluss. Ob das Blut und die anderen Körperflüssigkeiten von Kenji und dem alten Mann schon von den Abwasserkanälen
unterhalb dieses Hauses bis in den Pazifischen Ozean geflossen waren? Ob die Körperteile des alten Mannes, die Jūmonji weggebracht hatte, schon als Asche im südlichen Japanischen Meer versunken waren? Während Masako dem gedämpften Prasseln des Regens jenseits des Fensters lauschte, musste sie wieder an das Gurgeln des unterirdischen Kanals in der Nacht des Taifuns denken. Was war das nur, was in ihrem Bewusstsein hängen geblieben war und nicht abfließen wollte, wie der Müll, der sich in den Schleusen jenes Kanals verfangen hatte? Masako ging in ihrer Erinnerung die gestrige Nacht noch einmal durch.
Da sie vor der Arbeit noch
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