Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
bestimmt nicht. Das Geld war doch sowieso für sie bestimmt, und außerdem ist Issey weg. Sicher hat Kazuë irgendwann angerufen, und Miki war stolz und hat ihr gegenüber damit angegeben, anders kann ich mir das nicht vorstellen. Und dabei hatte ich Issey doch so lieb gewonnen, wirklich... und trotzdem …«
»Du bist dir also hundertprozentig sicher, dass es Kazuë war? Hätte nicht auch ein Fremder ins Haus eindringen und das Geld stehlen können?«, unterbrach Masako die durch die Erinnerung an ihren Enkelsohn wieder mit den Tränen kämpfende Yoshië. Sie wollte absolut auf Nummer sicher gehen, und dazu durfte sie nicht locker lassen. Den Grund dafür hatte sie Yoshië immer noch nicht mitgeteilt.
»Nein, es war Kazuë, bestimmt. Sie kennt das Versteck in der Küche schließlich, seit sie klein war.«
Tja, dann durfte sie sich nicht wundern, das war zu dumm! Masako fehlten die Worte, und sie starrte auf den vom Regen nassen, stumpf gewordenen Stoff ihrer Daunenjacke. Insgeheim war sie erleichtert, dass die mysteriöse dritte Partei die Tat nicht begangen haben konnte.
»Hör doch, was soll ich denn nur tun, um Himmels willen? Was soll denn jetzt bloß werden?«, verfiel Yoshië in ihr altbekanntes, gebetsmühlenartiges Klagelied.
»Nichts kannst du tun, das Kind ist in den Brunnen gefallen!«
»Hör mal, Masako-san«, begann Yoshië, und wurde plötzlich unterwürfig.
»Was?«
»Kannst du mir nicht etwas Geld leihen?«
Masako sah sie an. Yoshië schaute verzweifelt und mit flehenden Augen unter ihrem Schirm zu ihr auf.
»Wie viel?«
»Eine Million, nein, siebenhunderttausend würden schon reichen.«
»Das geht nicht«, sagte Masako und schüttelte den Kopf.
»Ich bitte dich! Ich verzichte auch auf den Umzug, bitte!« Yoshië klemmte den Schirm unter den Arm und faltete die Hände vor der Brust.
»Du wirst es niemals zurückzahlen können, Meisterin! So jemandem kann man unmöglich Geld leihen.«
»Du redest ja wie eine Bank! Schließlich hast du noch einen Mann, und das Geld da liegt bloß unnütz herum!«
»Du verlangst zu viel von mir.« Masakos Ton war unmissverständlich hart geworden. Als seien ihre Worte Ohrfeigen gewesen, verstummte Yoshië und blickte ihr verängstigt in die Augen.
»Ist das dein wahres Gesicht?«
»Ja, immer gewesen.«
»Aber du hast mir doch das Geld für Mikis Klassenfahrt geliehen!«
»Das tut nichts zur Sache. Aber es war wirklich zu dumm von dir, Meisterin, dir das ganze Geld von der eigenen Tochter klauen zu lassen!«
»Ja, da hast du Recht.« Yoshië ließ den Kopf hängen. Masako schwieg und bewegte die vor Kälte steifen Finger der Hand, in der
sie den Schirm hielt. Zwischen ihnen beiden entstand eine unangenehme Stille.
»Ich leih’s dir zwar nicht, aber ich schenk’s dir.«
Bei Masakos Worten erhellte sich Yoshiës Miene. »Was? Wie meinst du das?«
»Ich schenk dir das Geld, Meisterin, ich schenk dir die Million.«
»Ja, aber das geht doch nicht...«
»Doch, das geht. Du warst schließlich immer tüchtig bei der Sache und hast mich nie im Stich gelassen. Ich bring’s dir demnächst mit.« Eine Million kann ich schon noch abgeben, dachte Masako.
»Danke. Du hast mich gerettet, ich stehe tief in deiner Schuld.« Yoshië beugte den Kopf im Regen weit nach unten. »Ach, übrigens …«
»Was?«
»Meinst du, es kommt demnächst ein neuer Auftrag?«
Masako schaute Yoshië ins Gesicht, die unter dem schwarzen Schirm noch kleiner wirkte als sonst. »Bis jetzt hab ich noch nichts gehört.«
»Wenn sich was tut, sag mir bitte Bescheid, ja? Auf jeden Fall, hörst du?«
»Du willst es wieder machen, nicht wahr?«, fragte Masako mit belegter Stimme.Yoshië, die nichts von dem unsichtbaren Gegner wusste, nickte nachdrücklich.
»Ja. Ich will mehr Geld. Und diese Arbeit ist der einzige Weg, es zu verdienen. Vielleicht bin ich selbst ja noch viel herzloser und erbärmlicher als meine Tochter.« Damit wandte Yoshië Masako den Rücken zu und verschwand in ihrem schäbigen Haus, an dem weder die Bretterwände noch das Dach jemals ausgebessert worden waren. Aus der kaputten Regenrinne schoss das Wasser mit Macht zu Boden und bohrte sich in den Lehm. Masakos Jeans war schon bis obenhin nass von dem Spritzwasser. Sie zitterte jetzt unaufhörlich vor Kälte. Genau wie in Zeiten, da sie eine Erkältung heraufziehen fühlte, mahnten sämtliche Dinge sie zur Wachsamkeit.
4
Die Tür zum Balkon stand weit offen. Es war fünf Grad Celsius. Der eiskalte Wind kurz
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