Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
bei Yayoi vorbeigefahren war, kam sie später als sonst in der Fabrik an.
Sie hatte sich nicht verspäten wollen, aber das Verschwinden dieser Yōko Morisaki aus Yayois Umfeld beschäftigte sie sehr. Hatte es diese Frau auf die Versicherungssumme abgesehen, oder hatte sie sich Yayoi zu einem anderen Zweck genähert? Sollte Masako sich darüber mit Jūmonji beraten? Oder hatte er womöglich seine Finger mit im Spiel? Sie konnte niemandem vertrauen. Masako fühlte sich, als segelte sie mutterseelenallein auf hoher See durch die Nacht: ängstlich, orientierungslos.
Im Wachhäuschen auf dem Fabrikparkplatz brannte Licht. Einen Wachmann konnte sie nicht entdecken, aber auf dem finsteren Parkplatz, den bisher nicht einmal die Straßenbeleuchtung erreicht hatte, kam ihr das Häuschen wie ein Leuchtturm vor, der die dunkle See erhellte. Erleichtert setzte Masako rückwärts in ihre Parklücke. Kunikos Golf stand schon an seinem Platz.
Ein Wächter in Uniform kam vom dunklen Weg auf den Parkplatz zurück. Vor dem Wachhäuschen machte er seine große Taschenlampe aus, schaltete sie aber gleich wieder ein, als er Masakos Wagen bemerkte. Dann leuchtete er auf das Nummernschild des Corolla. Bei der Fabrikverwaltung waren die Kennzeichen der Beschäftigten registriert, die mit dem Auto zur Arbeit kamen. Wenn es also zu seinen Aufgaben gehörte, auf widerrechtliches Parken zu achten, musste er so verfahren. Trotzdem, er hielt die Lampe für ihren Geschmack etwas zu lange auf ihr Auto gerichtet.
Masako stellte den Motor ab, stieg aus und wartete, bis der
Wachmann über den knirschenden Kies näher gekommen war. Es war ein relativ großer, stämmiger Mann mittleren Alters.
»Guten Abend. Sie möchten zur Fabrik?«
Er hatte eine tiefe, sanfte Stimme, die angenehm in den Ohren klang. Man konnte sich fragen, warum ein Mann, der eine solche Stimme besaß, sich die einsame Arbeit eines Parkplatzwächters ausgesucht haben mochte.
»Ja«, antwortete Masako, worauf er ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete. Auch diesmal kam ihr das merkwürdig lang vor. Und umso unangenehmer, da sie das Gesicht ihres Gegen übers nicht sehen konnte. Als sie den Arm vor die Augen hielt, da sie sich geblendet fühlte, entschuldigte sich der Wächter.
Masako schloss die Wagentür ab und ging los. Der Parkplatzwächter folgte ihr in geringem Abstand. Misstrauisch drehte sie sich zu ihm um.
»Ich begleite Sie nur«, behauptete er.
»Aber warum denn?«
»Das wurde einstweilen so angeordnet, wegen der Gerüchte um den Grabscher.«
Mit Bestimmtheit sagte Masako: »Nicht nötig, ich gehe allein.«
»Aber wenn etwas passiert, habe ich mich dafür zu verantworten.«
»Es ist schon spät, ich muss mich beeilen.«
Obwohl sie ihn zurückgewiesen hatte, verschwand der Wachmann nicht, sondern blieb ihr dicht auf den Fersen, wobei er ihr mit der Taschenlampe einige Meter Weg vor den Füßen ausleuchtete. Unwirsch blieb sie stehen und fuhr zu ihm herum. Ihre Augen trafen sich in der Dunkelheit. Sein Gesicht war ihr frontal zugewandt, als hätte er die ganze Zeit auf ihren Rücken gestarrt. Er kam ihr bekannt vor, so dass sie im ersten Moment glaubte, ihm schon einmal irgendwo begegnet zu sein. Der Wachmann musterte sie ebenfalls.
»Sind wir uns nicht schon einmal...«, begann sie, wusste aber im selben Augenblick, dass der Mann ihr wildfremd war. »Nichts, schon gut.«
Seine relativ kleinen Augen unter der tief ins Gesicht gezogenen Uniformkappe wirkten ruhig und beherrscht. Im Gegensatz dazu machte der große Mund mit den vollen Lippen einen gierigen
Eindruck. Ein merkwürdiges Gesicht, dachte Masako und wandte sich ab.
»Hier ist es so dunkel, ich bringe Sie noch bis dort drüben.«
»Nein, ich möchte allein gehen, lassen Sie mich jetzt bitte zufrieden!«
»In Ordnung, verstehe.« Der Wachmann grinste gequält, so als müsse er sich notgedrungen ihrem Widerstand beugen. In seinen Augen, die doch so ruhig und beherrscht gewirkt hatten, meinte Masako, für einen Moment wilde, animalische Wut aufblitzen zu sehen. Es gab Leute, die sie mit ihrer direkten Art verärgerte. Und vielleicht, dachte Masako, gehört dieser Mann auch dazu.
Am nächsten Morgen, als sie nach der Schicht zum Parkplatz zurückkam, war der Wachmann schon nicht mehr da.
Mehr war nicht passiert, außer dass in ihrem Umfeld plötzlich merkwürdig viele fremde Menschen auftauchten, die sie beunruhigten. Am wenigsten gefiel ihr dabei, dass sie das so irritierte. Sie ging ins
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