Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
vor Morgengrauen wehte herein und glich die Zimmertemperatur der Außenluft an.
Satake hatte den Reißverschluss seiner dunkelblauen Windjacke bis zum Hals zugezogen und lag in der grauen Arbeitshose, die er auch tagsüber angehabt hatte, auf dem Bett. Am liebsten hätte er sämtliche Fenster aufgerissen, damit der kalte Wind bis in jede Ecke der Wohnung dringen konnte, doch die zum Außenflur liegende Nordseite ließ er fest verschlossen.
Apartment 412. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Eine schlauchartige Wohnung mit Nord-Süd-Ausrichtung im engen Mietskasernenstil. Wie in seinem alten Apartment in West-Shinjuku hatte er alle Schiebetüren herausgenommen und besaß immer noch kein Möbelstück – außer einem Bett, das er so aufgestellt hatte, dass er im Liegen den Himmel von Musashino sehen konnte.
Der Morgenstern wäre zu sehen gewesen. Aber Satake lag, vor Kälte zitternd, da, biss die Zähne zusammen und hielt die Augen geschlossen. Er war kein bisschen müde. Er wollte die Augen nicht aufmachen. Er hielt sie fest geschlossen, um sich möglichst genau Masako Katoris Gesicht und Stimme vorstellen zu können. Dazu setzte er die Bruchstücke seiner Eindrücke zusammen, nahm sie auseinander und fing von neuem an, wieder und wieder.
Er vergegenwärtigte sich noch einmal ihr Gesicht auf dem dunklen Fabrikparkplatz. Ihren Blick, der nicht die Spur von Unachtsamkeit erkennen ließ, die dünnen Lippen, die sich alle weltlichen Freuden zu versagen schienen, die angespannten Wangen. Als er sich erinnerte, wie sich die Schatten der Angst auf dieses asketische Antlitz gelegt hatten, lächelte Satake.
»Nein, ich möchte allein gehen, lassen Sie mich jetzt bitte zufrieden!«
Die dunkle, eindringliche Stimme, mit der sie ihn zurückgewiesen hatte, klang ihm wieder und wieder in den Ohren. Ihre Gestalt von hinten, als sie auf dem unbeleuchteten, ungepflasterten Weg davongestürmt war. Während er ihr im Abstand von wenigen Schritten gefolgt war, hatte er das Phantom der anderen Frau vor sich gesehen. Als sie sich dann umdrehte, ihm noch einmal
ihr Gesicht zeigte und er die steilen Falten des Unmuts zwischen ihren Brauen entdeckte, hatte er Gänsehaut bekommen vor lauter Glück. Denn Masako ähnelte der Frau sehr, die Satake vor Jahren zu Tode gequält hatte. Ihr Gesicht, die Stimme, die Falten zwischen den Brauen – einfach alles.
Jene Frau war sicher zehn Jahre älter gewesen als er. Ob sie denn damals in Wahrheit gar nicht gestorben war, sondern in dieser flachen, staubigen Stadt heimlich weitergelebt hatte? Unter dem Namen Masako Katori? Außerdem schien auch Masako etwas gespürt zu haben, denn während er ihr ins Gesicht starrte, hatte sie den Satz begonnen: »Sind wir uns nicht schon einmal...« Satake war überzeugt, damit den Augenblick miterlebt zu haben, in dem ihre Enthaltsamkeit durch ihn Risse bekam. »Das ist Schicksal«, murmelte Satake.
Er erinnerte sich daran, wie er die Frau zum ersten Mal gesehen hatte, auf den Straßen von Shinjuku, im Hochsommer vor siebzehn Jahren.
Einige Prostituierte, die für Satakes Syndikat arbeiteten, waren heimlich von einer gewieften Jobagentin abgeworben worden. Gerüchten zufolge stammte diese Vermittlerin selbst aus dem Prostituiertenmilieu und hatte sich mit über dreißig zu einer tüchtigen Unternehmerin hochgearbeitet. Dieses unverschämte Weib machte den jungen Satake wütend. Um der Frau einen Denkzettel zu verpassen, setzte er viel Zeit und Energie daran, ihr raffinierte Fallen zu stellen, und sandte mehrere Mädchen als Lockvögel aus. Endlich ging ihm die Frau ins Netz. Sie hatte sich mit einem seiner Lockvögel in einem Café verabredet und erschien tatsächlich. Es war ein schwüler Abend, ein Gewitter lag in der Luft.
Satake musste sein hitziges Gemüt im Zaum halten, während er die Frau aus dem Hinterhalt heraus beobachtete. Ihre Aufmachung war billig und grell. Das ärmellose, blaue Minikleid aus lappigem Synthetikstoff klebte ihr am hageren Körper und machte den Eindruck, stickig warm zu sein. An den Zehennägeln ihrer nackten, in weißen Sandalen steckenden Füße blätterte der Nagellack ab. Sie hatte kurzes Haar und war so mager, dass aus dem Ärmelausschnitt ihres Kleides der schwarze BH hervorschaute,
den sie trug. Nur die Augen verrieten ihren starken, unbeugsamen Charakter. Mit diesen Augen hatte sie Satake sofort entdeckt; sie betrat das Café erst gar nicht, sondern machte auf dem Absatz kehrt und floh.
Den Gesichtsausdruck der Frau im Moment,
Weitere Kostenlose Bücher