Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
war offenbar nur noch imstande, an seine eigene Sicherheit zu denken. Masako schaffte es, ihn vorerst zu beruhigen, und verabredete sich mit ihm für den kommenden Morgen um kurz nach sechs in einem Denny’s Restaurant, das die Nacht über geöffnet hatte.
Das Telefonat hatte sie aufgehalten, nun war sie spät dran für die Schicht. Masako beeilte sich, ihre Karte in die Stechuhr zu schieben, und rannte zur Fabrik ins Erdgeschoss hinunter. Die knapp hundert Arbeiter der Frühschicht warteten schon in einer langen Schlange vor dem Tor auf den Schichtbeginn um zwölf Uhr. Masako stellte sich hinten an. Vorbei waren die Zeiten, da sie mit Yoshië, Yayoi und Kuniko ganz vorne in der Reihe gestanden hatte, um die anderen im Kampf um die besten Fließbandplätze auszustechen und sich im Team die Arbeit so weit als möglich
zu erleichtern. Das alles erschien ihr jetzt wie Ereignisse aus grauer Vorzeit.
Das Tor ging auf. Die Arbeiter strömten hinein und stellten sich an den Waschplätzen direkt hinter dem Eingang an. Masako musste lange warten, bis sie endlich an die Reihe kam. Sie drückte den Wasserhahn mit dem Ellbogen auf und begann, sich die Hände zu waschen. Da rankte sich dieselbe Wahnvorstellung wieder um ihr Herz, die sie schon in den vergangenen Tagen geplagt hatte wie ein lästiger Fussel, der sich einfach nicht abschütteln ließ.
Ein weißer, ins Gelbliche spielender, fettiger Schmier klebte ihr an beiden Handflächen und war nicht wegzubekommen. Er hatte sich tief unter die Nägel gefressen und glitschte zwischen den Fingern. Kunikos Fett, an dem das Wasser abperlte und das einfach nicht abzuwaschen war, egal, wie oft sie die Hände auch einseifte, wie lange sie sie auch knetete und aneinander rieb.
Masako nahm immer wieder Seife und schrubbte ihre Handflächen wie verrückt mit der Bürste ab.
Plötzlich stand Komada, der Hygiene-Kontrolleur, hinter ihr: »Hey, Sie scheuern sich ja die Hände wund! Passen Sie auf, dass Sie damit noch arbeiten können!«, warnte er sie nach einem Blick über ihre Schulter. Wenn man auch nur den kleinsten Kratzer hatte, durfte man die Nahrungsmittel nicht berühren. Masakos Hände und Unterarme waren schon feuerrot.
»Ja stimmt, danke.«
»Sagen Sie mal, was ist denn heute bloß mit Ihnen los?«
»Entschuldigen Sie.«
Sie tauchte die Hände in Desinfektionsmittel und trocknete sie mit keimfreien Gaze-Tüchern, mit denen sie auch die Vinyl-Schürze abrieb. Beim Anblick der Schürze erinnerte sie sich wieder, wie Kunikos schwarzrotes Blut daran geklebt hatte und einfach nicht abzukriegen gewesen war. Bei dem Versuch, auch diese Vorstellung aus ihrem Hirn zu verbannen, schüttelte Masako heftig den Kopf.
»Masako-san!« Kazuo kam an ihr vorbei. Er schob schon einen Wagen mit weißem Reis vor sich her. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, antwortete Masako, während sie so tat, als überlegte sie, an welches Fließband sie sich stellen sollte.
»Ich habe den Umschlag in mein Schließfach getan.«
»Ja, danke.«
Kazuo blickte sich um, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass noch niemand auf sie beide aufmerksam geworden war, raunte er ihr zu: »Sie sehen ja heute Furcht erregend aus, Masako-san, wie der leibhaftige Tod!«
Woher kannte er bloß solche Wörter? Masako schaute zu ihm auf und betrachtete sein Profil. Heute Nacht strahlte er eine wundervoll unerschrockene Ruhe aus, eine Zuverlässigkeit, als sei aus dem Hundewelpen ein ausgewachsener Rüde geworden. Ach, hätte ich jetzt bloß seine Ruhe, seine Körperkraft, nur für diese eine Nacht, wünschte sich Masako aus tiefstem Herzen.
Schon hatten die scharfen Augen des Vorarbeiters die beiden Herumstehenden entdeckt. Nakayama kam auf sie zu: »He, was macht ihr da? Los, an die Arbeit, aber ein bisschen plötzlich!«
Masako stellte sich brav ans Band. Die Arbeit in der Fabrik glich in mancherlei Hinsicht dem Gefängnisleben: Jedes kurze Gespräch im Stehen, jedes Flüstern war verboten, ja selbst seine natürlichen körperlichen Bedürfnisse durfte man nicht gleich und ohne vorherige Erlaubnis befriedigen; die Arbeiter hatten gefälligst stillschweigend ihr Soll zu erfüllen.
»Frohes Schaffen!« Kazuos Aufmunterung legte sich wie ein wärmendes Vlies auf Masakos Rücken. Yayoi und Yoshië ließen sich nicht mehr blicken, Jūmonji gab Fersengeld, und Kuniko war tot. Sie musste ganz allein mit Satake kämpfen. Ob auch das Teil seines Intrigenspiels war? Masako spürte instinktiv, dass Satake es einzig und
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