Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
ihre Rückkehr warten.
»Er ist unheimlich, findest du nicht?«
»Ja? Inwiefern?« Masako schaute in Yoshiës weißes Gesicht, das noch kleiner geworden zu sein schien.
»Ach, irgendwie.« Als wäre ihr das Erklären lästig, sagte Yoshië nichts weiter. Da sie ihr Fahrrad schob, leuchtete ihnen das schwache, flackernde Trafolicht ein paar Schritte den Weg.
»Was wolltest du denn von mir, Meisterin?«
»Ach so, ja, entschuldige. Es ist so einiges vorgefallen.« Yoshië seufzte schwer, als sei sie völlig am Ende. Auch an diesem Abend hatte sie die Windjacke an, die sie im Winter immer trug. Masako fiel das Flanellfutter wieder ein, das so fadenscheinig geworden war, dass es zu reißen drohte. Würde Yoshië nicht irgendwann genauso durchgescheuert sein?
»Was denn?« Sie konnte sich kaum vorstellen, dass Satake Yoshië etwas angetan haben sollte. Sein Interesse galt ausschließlich ihr selbst, das wusste sie.
»Also, die Sache ist die: Miki ist von zu Hause weggelaufen. Genau an dem Tag, an dem ich das Geld eingenommen hab, seitdem ist sie verschwunden. Ich habe mir ja schon immer Sorgen um sie gemacht, weil ihre Schwester so ein schlechtes Beispiel abgegeben
hat. Aber nie hätte ich für möglich gehalten, dass sie es ihr tatsächlich gleichtut und auch noch abhaut! Jetzt bin ich ganz allein. Ach, ich kann einfach nicht mehr!«
Masako hörte schweigend zu. Yoshië fand keinen Ausweg aus ihrer Situation.
»Sie war wohl fest davon überzeugt, dass sie nun nicht mehr aufs College könnte. Dabei hab ich doch das Geld! Ach, bei mir läuft wirklich alles schief im Leben!«
»Sie wird zurückkommen, bestimmt.«
»Nein. Sie ist genau wie meine Älteste. Sicher ist sie auch nur irgend so einem nichtsnutzigen Kerl hinterhergerannt. Meine Töchter sind wirklich zu blöd. Deshalb hat ja doch alles keinen Zweck mehr, nein, es hat alles keinen Zweck«, wiederholte Yoshië immer wieder, während sie weiterging. Es klang wie eine Rechtfertigung, aber Masako wusste nicht, für was.
Die stillgelegte Fabrik lag hinter ihnen, und sie kamen an der geschlossenen Bowlingbahn und einigen Wohnhäusern vorbei, bis sie schließlich auf die breite Straße trafen, die von der langen Mauer des Automobilwerks gesäumt wurde. Gleich rechts lag die Lunchpaket-Fabrik.
»Großer Gott!« Yoshië klopfte sich aufs Kreuz und streckte sich. Das durchgedrückte Kreuz machte ihren Rücken krumm und schief, so dass sie wirkte wie eine alte Frau. »Tja, das wär’s dann wohl.«
»Was?«
»Mit der Nachtschicht und dem Lunchpakete Packen.«
»Wieso, hörst du auf?«
»Ja. Mir ist einfach die Lust vergangen, hier zu arbeiten.«
Masako sagte nicht, dass es ihr genauso ging. Für sie sollte heute Nacht ebenfalls Schluss sein. Sie wollte die Kündigungsformalitäten erledigen und bei Kazuo das hinterlegte Geld und ihren Reisepass abholen. Wenn sie die heutige Nacht unversehrt überstand, könnte sie Satake vielleicht glücklich entkommen.
»Deshalb bin ich auch heute extra hier herum gekommen. Ich wollte noch ein wenig mit dir reden.«
Aber das hätten sie doch nach der Schicht in aller Ruhe im Aufenthaltsraum tun können! Was redete sie da bloß? Ohne Yoshiës Verhalten zu verstehen, wartete Masako vor der Außentreppe,
während die Meisterin ihr Fahrrad abstellen ging. Es war eine vollkommen sternlose Nacht, in der einem die Wolken dick und schwer über dem Kopf zu hängen schienen. Aber auch von den Wolken war nichts zu sehen. Mit dem beklemmenden Gefühl, erdrückt zu werden, sah Masako an dem Gebäude der Lunchpaket-Fabrik hoch, das sich drohend vor ihr erhob.
Da ging die Eingangstür im ersten Stock auf. »Frau Katori!«, rief jemand. Es war Komada, der Hygiene-Kontrolleur.
»Was ist?«
»Wissen Sie, ob Frau Azuma heute gekommen ist?«
»Ja, sie stellt gerade noch ihr Fahrrad ab.«
Als er das hörte, kam Komada die Treppe heruntergerannt. In der Hand hielt er noch den Kleberoller. Als er unten war, kam Yoshië gerade zurück.
»Frau Azuma!«, rief er mit aufgeregter Stimme. »Fahren Sie sofort wieder zurück, es ist etwas Schreckliches geschehen!«
»Was ist denn los?«, fragte Yoshië.
»Ihr Haus steht in Flammen! Man hat uns gerade angerufen!«
»Verstehe.« Aus Yoshiës Gesicht wich zusehends die Farbe, bis es vollkommen blutleer war. Komadas Miene verzerrte sich vor Mitleid.
»Nun fahren Sie schon, fahren Sie schnell nach Hause zurück!«
»Es ist ja sowieso alles zu spät«, meinte Yoshië apathisch.
»Sagen Sie doch so
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