Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
holen gehen? Ich wusste nicht, dass Sie heute frei haben.«
»Ja, in Ordnung.« Kazuo schaute sie besorgt an. Masako wich seinem Blick aus, holte ihre Zigaretten heraus und sah sich nach einem Aschenbecher um. Kazuo steckte sich ebenfalls eine Zigarette zwischen die Lippen und stellte einen Blechascher mit dem Emblem von Coca Cola auf den Tisch.
»Ich gehe gleich. Warten Sie hier.«
»Ja, verzeihen Sie.« Masako sah sich in dem engen Zimmer um, das ihr wie der einzig sichere Ort auf Erden vorkam. Kazuos Mitbewohner schien zur Nachtschicht gegangen zu sein, das untere Bett war ordentlich gemacht.
»Was ist passiert? Erzählen Sie es mir ruhig, wenn Sie möchten«, fragte Kazuo sie vorsichtig, so als fürchte er, Masako wäre sofort auf und davon, wenn er die Dinge überstürzte.
»Ich bin auf der Flucht vor einem bestimmten Mann.« Wie Eis, das bei Zimmertemperatur leise taute, fing Masako zögerlich zu erzählen an. »Warum, kann ich Ihnen nicht sagen. Deshalb habe ich vor, mich mit dem Geld in irgendein anderes Land abzusetzen.«
Kazuo blickte zu Boden und dachte eine Weile nach. Er stieß den Rauch seiner Zigarette aus, hob dann wieder den Kopf mit dem dunkelhäutigen Gesicht. »Wohin? Leicht hat man es nirgendwo.«
»Ja, das mag sein. Wohin ist mir gleich, wenn ich es nur irgendwie schaffe, hier herauszukommen.«
Kazuo fasste sich mit der Hand an die Stirn, wie um ihr zu sagen, sie bräuchte ihm nicht zu erklären, dass ihr Leben auf dem Spiel stand, das könne er ihr ansehen.
»Was ist mit Ihrer Familie?«
»Mein Mann kommt alleine zurecht. Er hat sich sowieso von der Gesellschaft zurückgezogen. So wie es eben seine Art ist. Er lässt einfach niemanden an sich heran. Und mein Sohn ist groß genug, dass er sich auch ohne mich durchschlagen kann.« Wieso erzählte sie ihm das alles bloß, Dinge, die sie noch keiner Menschenseele anvertraut hatte? Das Gefühl, dass er wahrscheinlich ohnehin nicht genug Japanisch verstand, öffnete ihr das Herz. Als es heraus war, traten ihr wider Erwarten Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit den Handrücken weg.
»Sie sind ganz allein, nicht wahr?«
»Ja, sieht so aus. Früher sind wir einmal eine Familie gewesen, drei, die sich prima verstanden haben. Aber irgendwann ist es einfach in die Brüche gegangen, ohne dass jemand etwas dafür könnte. Aber ich glaube, so richtig kaputtgemacht hab ich erst alles.«
»Wieso?«
»Weil ich sie im Stich lasse, weil ich alleine weggehe. Weil ich frei sein will.«
Kazuos Augen hatten sich nun ebenfalls mit Tränen gefüllt. Sie fielen in dicken Tropfen auf die Tatami. »Bedeutet denn alleine sein frei zu sein?«
»Ja, im Moment heißt es das für mich.« Sie wollte raus, weg von
hier. Aber wovor floh sie eigentlich, und wohin wollte sie? Sie wusste es nicht.
Kazuo murmelte: »Das ist zu traurig. Sie tun mir Leid.«
»Ja, aber«, sagte Masako, schüttelte den Kopf und umschlang ihre beiden Knie, »ich brauche Ihnen doch nicht Leid zu tun. Ich wollte ja frei sein. Deshalb ist es gut so.«
»Wenn Sie glauben...«
»Ja, es ist gut so, auch wenn ich dabei draufgehen sollte. Denn vorher war ich hoffnungslos verzweifelt.«
Schlagartig verdunkelte sich Kazuos Miene. »Woran denn?«
» Am Leben.«
Kazuo fing wieder zu weinen an. Masako betrachtete diesen jungen Mann aus der Fremde, der da wegen ihrer Worte Tränen vergoss. Sein Schluchzen wollte und wollte nicht enden.
»Wieso weinen Sie?«
»Weil Sie mit mir über so etwas Wichtiges gesprochen haben. Sie waren so weit weg, so unerreichbar für mich.«
Masako lächelte. Kazuo schwieg und wischte sich mit seinen kräftigen Armen die Tränen ab. Masako betrachtete die gelbgrüne brasilianische Flagge, die anstelle von Vorhängen vor dem Fenster hing.
»Sagen Sie, welches Land wäre denn ganz gut? Ich war noch nie im Ausland.«
Kazuo schaute auf und sah sie an. Seine großen, lackschwarzen Augen waren vom Weinen gerötet. »Gehen Sie doch nach Brasilien.«
»Wie ist es denn da so?«
Kazuo überlegte und lachte dann verlegen: »Das kann ich schlecht beschreiben. Aber Brasilien ist schön, ehrlich, wunderschön. Jetzt ist gerade Sommer.«
Sommer. Masako schloss die Augen, als träume sie. Der letzte Sommer hatte ihr Schicksal verändert. Der Duft von blühenden Gardenien. Das Dickicht aus Wiesengras am Parkplatz. Das Rauschen des Wassers im Kanal, sein kurzes Glitzern. Plötzlich spürte sie eine Bewegung, machte die Augen auf und sah, dass sich Kazuo bereitmachte zu
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