Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
gelegen und ferngesehen hatte, war nicht mehr da. Er schien sich nach oben in sein Zimmer verzogen zu haben, ohne dass sie es bemerkt hatte. Ihr Mann Yoshiki war nach einem Schlummertrunk früh zu Bett gegangen – sie musste also nicht befürchten, dass jemand von der Familie etwas von dem Inhalt des Telefonats mitbekommen hatte. Erleichtert dachte sie darüber nach, was nun zu tun war. Doch für gründliche Überlegungen blieb keine Zeit. Sie musste schnell handeln. Masako beschloss, sich während der Fahrt Gedanken zu machen.
Den Autoschlüssel schon in der Hand, rief sie ihrem Sohn im
ersten Stock zu: »Ich bin schon zur Arbeit, hörst du? Pass auf, dass du das Haus nicht in Brand setzt, ja?«
Keine Antwort. Masako wusste, dass Nobuki in letzter Zeit während ihrer Abwesenheit heimlich Alkohol trank und rauchte. Sie musste ihren Sohn, der in diesem Sommer siebzehn wurde, ohne dass ihm klar war, was er in Zukunft machen wollte, was aus ihm werden sollte, der keine Perspektive besaß und sich für nichts begeisterte, im Auge behalten.
Nobuki war gleich im ersten Frühling auf der Städtischen Oberschule mit Party-Tickets erwischt worden, die ihm irgendein anderer Schüler aufgezwungen hatte, und das allein war der Schulleitung Grund genug gewesen, ihn wegen Beihilfe zum Weiterverkauf von der Schule zu verweisen. Diese drakonische Strafe, mit der man wohl nur ein Exempel statuieren wollte, hatte ihm offenbar einen solchen Schock versetzt, dass er verstummt war. Niemand wusste, wie man das Herz ihres Sohnes, der seither kein Wort mehr gesprochen hatte, wieder öffnen konnte. Wahrscheinlich war er selbst nicht minder ratlos angesichts der fest zugeschlagenen Tür, bestimmt sogar, doch die Zeit, da Masako verzweifelt nach dem passenden Schlüssel gesucht hatte, war vorbei. Sie hatte eingesehen, sich damit abfinden zu müssen, dass es schon in Ordnung war, wenn er nur jeden Tag zu seiner Arbeit als Bauhilfsarbeiter ging. Kinder zu haben hieß, in einer menschlichen Verbindung zu stehen, die nicht zu lösen war, auch wenn es nicht so lief, wie man sich das vorgestellt hatte.
Masako blieb vor dem kleinen Zimmer neben dem Eingang stehen. Durch die Sperrholztür drang das leise Schnarchen ihres Mannes. Seit wann schlief er jetzt schon in diesem Zimmer, das Richtung Norden lag und aus dem sie eigentlich einen Abstellraum hatten machen wollen? Masako verharrte dort in der Diele und dachte nach. Getrennte Schlafzimmer hatten sie schon gehabt, bevor sie in dieses Haus zogen, als sie noch in ihrer Firma beschäftigt gewesen war. Es kam ihr längst nicht mehr unnatürlich, traurig oder einsam vor, sie hatte sich daran gewöhnt, dass alle drei Familienmitglieder die Nacht in ihren eigenen Zimmern verbrachten.
Yoshiki arbeitete in einem Bauunternehmen, das zu einem der großen Immobilienkonzerne gehörte. Dem Namen nach war es
immer noch ein angesehenes, erfolgreiches Unternehmen, aber die Wirklichkeit sah anders aus: Die Firma war von der Rezession gezeichnet, und die Belegschaft litt unter einem starken Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Mutterkonzern – so hatte Yoshiki es einmal ausgedrückt. Wie er selbst als Angestellter im Vertrieb damit umging, wusste Masako nicht; ihr Mann verzog schon widerwillig das Gesicht, sobald sie nur den Namen der Firma in den Mund nahm, so sehr hasste er es, darüber zu reden.
Sie hatte Yoshiki, der zwei Jahre älter war als sie, in der Oberschule kennen gelernt. Sie schätzte die weltfremde Gutmütigkeit, die ihm eigen war und die man auch als Reinheit des Herzens bezeichnen konnte. Yoshiki, der es verabscheute, andere Menschen zu betrügen und zu übervorteilen, eignete sich nicht für das harte Geschäft in der Baubranche. Das bewies die Tatsache, dass er ein kleiner Angestellter geblieben und längst jede Aufstiegsperspektive eingebüßt hatte. Seine bitteren Erfahrungen machten es ihm offenbar unmöglich, sich mit der Welt zu arrangieren. In der Art jedenfalls, wie er sich an freien Tagen voller Verachtung für die schnöde Außenwelt wie ein Einsiedler in diesem Zimmer verschanzte, ähnelte er durchaus dem verstummten Nobuki. Nachdem ihr das bewusst geworden war, hatte Masako aufgehört, ihren Mann ohne triftigen Grund anzusprechen.
Nobuki, ihr Sohn, Yoshiki, ihr Mann, und schließlich sie selbst, Masako, deren Stelle wegrationalisiert worden war und die nun in einer Fabrik Nachtschicht schob – eine Familie aus gerade mal drei Personen, die alle in ihrem eigenen Zimmer
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