Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
denn, Milkylein... Doch die Katze war längst über alle Berge, irgendwo im Regen verschwunden. Wie Kenji würde sie wohl nie mehr wiederkommen.
Yayoi führte ein Leben gegen den normalen Rhythmus: Wenn sie frühmorgens von der Nachtschicht nach Hause kam, blieb sie auf, um für Kenji und die Kinder das Frühstück vorzubereiten und mit ihnen zu essen, bevor sie die beiden Jungen zum Hort brachte. Danach erst konnte sie in Ruhe schlafen.
Sie war nicht eben erpicht darauf gewesen, in Nachtschicht zu arbeiten, doch als Mutter mit zwei kleinen Kindern blieb ihr kaum etwas anderes übrig. Es gab einfach keine Firmen, die ihr, die ständig wegen irgendwelcher Kinderkrankheiten und anderer Unwägbarkeiten zu Hause bleiben musste, eine Vollzeitstelle geben würden. Bevor sie in der Lunchpaket-Fabrik angefangen hatte, war sie halbtags als Kassiererin in einem Supermarkt beschäftigt gewesen. Doch man hatte ihr schnell wieder gekündigt, nachdem sie es abgelehnt hatte, sonntags zu arbeiten, und mehrmals gefehlt hatte, weil die Kinder plötzlich krank geworden waren. Die Nachtarbeit war zwar körperlich anstrengend, aber der Stundenlohn besser als tagsüber, und sie besaß den Vorteil, dass sie in Ruhe zur Arbeit gehen konnte, während die Kinder schliefen. Außerdem hatte sie dabei Freundinnen wie Masako und Yoshië gefunden.
Doch von nun an würde Kenjis Einkommen fehlen. Wie sollte es nur weitergehen? Aber dann besann sie sich darauf, wie sie den Haushalt ja die ganzen letzten Monate bereits ohne sein Geld mit Mühe und Not über die Runden gebracht hatte: Schlimmer konnte es kaum kommen. Es würde schon irgendwie gehen, sie würde beweisen, dass sie sich durchschlagen konnte. Seit der vergangenen Nacht hielt sich Yayoi für stark und selbstsicher.
Am liebsten hätte sie ihren besorgten Anruf in Kenjis Firma sofort hinter sich gebracht. Aber es könnte verdächtig wirken, wenn sie es zu früh täte. Also folgte sie, um Zeit zu schinden, ihrem normalen Tagesablauf, nahm eine halbe Schlaftablette und legte sich hin. Doch diesmal fiel sie nicht so leicht in Schlaf, und als sie endlich glaubte, eingenickt zu sein, träumte sie, dass Kenji quicklebendig neben ihr läge. Schweißgebadet wälzte sie sich hin und her.
Irgendwann, als sie schließlich doch noch eingeschlafen war, weckte sie das ferne Läuten des Telefons. Das war vielleicht Masako! Überstürzt sprang sie auf. Die Wirkung des Schlafmittels hatte wohl noch nicht ganz nachgelassen, denn ihr wurde schwindelig.
»Mein Name ist Hirosawa, ist Ihr Mann zu Hause?«, meldete sich ein Angestellter der kleinen Baustofffirma, bei der Kenji beschäftigt war. Jetzt ist es also so weit, dachte Yayoi und atmete tief durch.
»Nein, ist er denn nicht zur Arbeit gekommen?«
»Nein, er ist noch nicht hier...«
Yayoi hatte es geschafft, verwirrt und erschrocken zu klingen. Sie drehte sich um und schaute auf die Uhr an der Wohnzimmerwand. Es war kurz nach eins.
»Ich will offen mit Ihnen sein: Er ist die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen. Ich weiß nicht, wo er übernachtet hat, aber ich hatte gehofft, dass er direkt zur Arbeit gegangen ist. Ich hab mich kaum getraut, in der Firma anzurufen und nachzufragen, denn dann wäre er womöglich wütend geworden. Ich war vollkommen ratlos …«
»... ja, verstehe«, warf Hirosawa, bei dem sich offenbar das Solidaritätsgefühl mit einem seiner Geschlechtsgenossen bemerkbar machte, hastig ein. »Sie machen sich sicher Sorgen!«
»So etwas ist schließlich noch nie vorgekommen, und ich weiß gar nicht, wie ich mich verhalten soll. Gerade habe ich noch überlegt, ob es nicht doch langsam besser wäre, in der Firma anzurufen...« Hirosawa war der Vertriebsleiter, Kenjis direkter Vorgesetzter also, erinnerte sich Yayoi, und während sie an seine ausgemergelte, armselige Erscheinung dachte, musste sie sich zwingen, weiterhin die zwischen Scham und Sorge hin- und herschwankende Ehefrau zu spielen.
»Bestimmt ist alles nur halb so wild. Er hat wahrscheinlich zu tief ins Glas geguckt und schläft jetzt irgendwo seinen Rausch aus. Ich weiß, das wird Sie auch nicht trösten, aber sehen Sie, Yamamoto hat noch nie unentschuldigt gefehlt, da wird er einmal über die Stränge geschlagen haben. Das kennen wir doch alle – zu viel Stress, bis irgendwann mal der Drang kommt, einfach auszubrechen.«
»Ohne der eigenen Familie Bescheid zu sagen?«, warf Yayoi ein.
»Mhmm«, brummte Hirosawa verlegen und schwieg.
»Aber was soll ich denn jetzt
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