Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
verschwitzt; anscheinend war es wieder ein wenig wärmer geworden. Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn.
»Mama, Milky ist weg!«, beklagte sich Yukihiro noch einmal.
»Ja, wirklich? Hat sie sich nicht irgendwo versteckt?«
Während sie die Futons zusammenlegte und wegräumte, rekapitulierte sie noch einmal, was gestern Abend geschehen war. Endlich fiel ihr wieder ein, dass die Katze vor ihr davongelaufen war, nachdem sie Kenji umgebracht und die Haustür einen Spaltbreit geöffnet hatte. Merkwürdig, alles kam ihr so weit weg vor, mit vielen Unwägbarkeiten, wie Ereignisse aus grauer Vorzeit.
»Aber wenn ich’s doch sage, sie ist nicht da, nirgendwo!« Ihr Jüngster verzog das Gesicht zum Weinen. Er war ein ungestümes Kind, aber die Katze liebte er heiß und innig. Yayoi machte sich auf die Suche nach seinem friedfertigen älteren Bruder, damit er sich um den Kleinen kümmerte.
»Takashi, wo bist du? Such doch eben mit Yukihiro nach Milky!«
Takashi kam ihr mit betrübtem Gesicht im Schlafanzug entgegen: »Ist Papa schon zur Arbeit gegangen?«
Schon lange schlief Kenji, der immer spät von der Arbeit kam, alleine in dem kleinen Zimmer neben dem Hauseingang. Takashi hatte offenbar sofort nach dem Aufwachen dort nachgesehen.
»Nein, er scheint irgendwo anders übernachtet zu haben. Er ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen...«
»Du lügst, Papa ist wohl nach Hause gekommen!«
Erschrocken sah Yayoi ihren Sohn an. Sein Gesicht mit dem für einen Jungen blassen Teint und den feinen Zügen war kummervoll verzogen. Während sie einmal mehr feststellte, wie sehr es ihrem eigenen ähnelte, wenn sich die Augenwinkel so traurig senkten, fragte sie ihn: »Und wann soll das gewesen sein?«
Sie merkte, wie ihre Stimme bei den Wortendungen ins Schwanken geriet, und wusste, dass sie das irgendwie abstellen oder überspielen musste, denn das hier war nur ein kleines Vorgefecht zu dem, was noch kommen sollte.
»Die Uhrzeit weiß ich nicht«, antwortete Takashi wie ein Erwachsener, »aber ich habe gehört, wie er heimgekommen ist, jedenfalls hat es sich genauso angehört.«
»Ach, die Geräusche? Das war bestimmt, als Mama zur Arbeit gegangen ist! Meinst du nicht, dass du es damit verwechselt hast? So, und jetzt beeil dich, sonst kommen wir zu spät!«
»Ja, aber...«
Takashi gab sich immer noch nicht zufrieden, doch Yayoi kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern ermahnte auch den kleinen Yukihiro, der überall herumlief und nachschaute, ob sich die Katze nicht vielleicht unter dem Sofa oder hinter dem Geschirrschrank in der Küche versteckt hatte: »Mama sucht nachher schon nach Milky, komm jetzt, wir müssen bald los!«
Nachdem sie ihren beiden Söhnen ein schnelles Frühstück gemacht, ihnen die Regencapes angezogen, einen vorne und einen hinten auf ihr Fahrrad gesetzt und sie in den Kinderhort gebracht hatte, geriet Yayoi in einen Zustand zerstreuter Ratlosigkeit. Eigentlich hatte sie große Lust, sofort bei Masako anzurufen, um zu erfahren, wie alles gelaufen war – nein, am liebsten wäre sie gleich auf der Stelle mit dem Fahrrad hingefahren und hätte sich selbst überzeugt. Aber Masako hatte ihr aufgetragen zu warten, bis sie sich mit ihr in Verbindung setzen würde.Yayoi fügte sich und fuhr auf schnellstem Wege durch das Wohngebiet nach Hause.
In der Gasse vor ihrer Straße traf sie auf eine ältere Frau aus der Nachbarschaft, die mit aufgespanntem Schirm dabei war, die Müllsammelstelle sauber zu machen. Über die Bewohner des nahen Mietshauses schimpfend, fegte sie verstreuten Müll zusammen. Yayoi blieb nichts anderes übrig, als sie freundlich zu grüßen: »Guten Morgen! Sie machen sich immer solche Mühe!«
Als die Frau sie erkannte, sagte sie etwas, mit dem Yayoi nicht gerechnet hatte: »Ach, sehen Sie mal, da drüben, ist das nicht Ihr Kätzchen?« Die Frau zeigte auf einen Strommast, hinter dem eine weiße Katze kauerte. Kein Zweifel, es war Milky.
»Ja wirklich, so was! Komm, Milky, komm her!« Yayoi streckte die Hand aus, doch die weiße Katze drückte ängstlich ihr Hinterteil auf den Boden und stieß ein spitzes Miauen aus.
»Komm, Milky, komm schnell wieder ins Haus, du wirst ja pitschnass!« Die Katze rannte davon.
»Ach herrje, was hat sie denn nur? Das ist ja seltsam!«, rief die Nachbarsfrau erstaunt. Ihre Gegenwart machte Yayoi insgeheim nervös; verzweifelt rief sie immer wieder nach der Katze. Milky, Milkylein, sei brav, Milky, komm, komm her, wo steckst du
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