Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
die Illusion jetzt ungehindert die Tatsache des Mordes an ihrem Mann überdecken.
Der Nylonschirm hatte sich mit Regenwasser voll gesogen und
wurde schwer. Yayoi ließ ihre linke Hand, mit der sie den Schirm hielt, langsam sinken und sah zu, wie sich die rosarote Welt davonstahl und die Wohngegend mit den Reihen kleiner, immer gleicher Häuser ihre gewohnte Farbe zurückgewann. Der sanfte Regen benetzte ihren Körper. Bald war ihr Haar, ihr Gesicht vollkommen durchnässt. Yayoi fühlte sich wie neu geboren, und Mut stieg in ihr auf.
Als sie sich der Betonmauer an der Ecke zu ihrer Straße näherte, fiel ihr wieder ein, wie sie gestern Nacht hier auf Masakos Wagen gewartet hatte. Masako hatte sie nicht im Stich gelassen, sie hatte ihr geholfen. Die Rührung darüber würde sie ihr ganzes Leben nicht vergessen. Für Masako würde sie alles tun. Auch Kenjis Leiche war bei ihr in guten Händen, sie würde schon dafür sorgen, dass alles glatt lief. Yayoi fühlte sich, als sei ihr eine Last von den Schultern genommen worden.
Sie schloss die Tür zu ihrem Haus auf und trat in die noch dunkle Diele. Sie war wieder zu Hause, dort, wo alles durchdrungen war von dem vertrauten Geruch, wie nach Hundewelpen, die in der Sonne lagen – ob das von den Kindern kam? Und es war nun ihr Haus, ganz allein ihres und das ihrer beiden Jungen, die sie liebte.Yayoi atmete auf. Kenji würde nie mehr wiederkommen. Er war tot, aber niemand durfte ihr anmerken, dass sie das wusste, darauf musste sie von jetzt an höllisch aufpassen. Ihre größte Sorge war, ob sie auch in der Lage war, überzeugend genug die treue Ehefrau zu spielen, die sich um ihren verschollenen Mann sorgte.
Wenn sie dagegen an Kenjis totes Gesicht zurückdachte, nachdem sie ihm auf dem Absatz im Eingang von hinten den Hals zugezogen hatte, fühlte sie sich immer noch fabelhaft, direkt schadenfroh.
Hab ich dich erwischt, geschieht dir nur recht!, triumphierte sie insgeheim. Früher hätte sie sich nie zu so niederer, gehässiger Ausdrucksweise hinreißen lassen, und im Jagen besaß sie erst recht keine Erfahrung, aber woher kam dann plötzlich diese wilde Grausamkeit, wieso fühlte sie sich wie nach der Jagd, als hätte sie auf dem Feld irgendwelches Kleinvieh zur Strecke gebracht? War sie in Wahrheit immer schon so ein Mensch gewesen?
Kühl schaute sie sich im Eingang um, ob ihr Mann auch wirklich
nichts zurückgelassen hatte, während sie sich die Schuhe auszog. Da sie nicht mehr wusste, welche Schuhe Kenji bei seinem Tod getragen hatte, sah sie im Schuhschrank nach. Seine neuen Schuhe fehlten, das beruhigte sie. Nicht, weil Kenji so wenigstens in neuen Schuhen aus der Welt geschieden wäre, sondern weil sie Masako dann nicht auch noch die Entsorgung dreckiger Treter zumutete.
Zuallererst ging Yayoi ins Schlafzimmer, um nach den Kindern zu schauen. Erleichtert sah sie, dass beide Jungen noch friedlich schliefen. Während sie dem Kleinsten, der sich freigestrampelt hatte, behutsam die Frotteedecke über die Schultern zog, tat es ihr ein wenig Leid, dass sie ihren Söhnen den Vater für immer entrissen hatte.
»Aber Papa hatte sich verändert. Es war nicht mehr der Papa, der er einmal gewesen war«, murmelte sie leise. Plötzlich schlug Takashi, ihr fünfjähriger, älterer Sohn die Augen auf. Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen. Der Kleine blinzelte unruhig nach seiner Mutter.Yayoi klopfte ihm sachte auf den Rücken und sagte: »Mama ist wieder da, alles ist gut, schlaf ruhig weiter!«
»Aber Papa ist doch auch da, oder?«
»Nein, Papa ist noch nicht nach Hause gekommen.«
Takashi wollte sich besorgt aufsetzen, aber Yayoi klopfte ihm weiter leise auf den Rücken, bis der Junge wieder in Schlaf fiel. In Anbetracht der Dinge, die ihr an diesem Tag bevorstanden, hielt sie es für besser, sich selbst auch noch ein wenig hinzulegen, und kroch auf den noch ausgebreiteten Futon gleich neben denen der Kinder. Sie rechnete gar nicht damit, wirklich schlafen zu können, doch während sie sich über die Magengrube mit dem blauen Fleck strich, übermannte sie die Müdigkeit, und sie war mit einem Schlag eingenickt.
»Mama, Mama, wo ist Milky?!«
Yukihiro, ihr Kleinster, kam ungestüm auf ihren Futon geklettert und riss Yayoi gewaltsam aus der Welt ihrer Träume in die Wirklichkeit zurück. Hektisch sah sie auf den Wecker: Es war schon nach acht. Sie musste die Kinder noch vor neun zum Hort bringen. Yayoi sprang auf. Sie hatte in ihren Kleidern geschlafen und war
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