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Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out

Titel: Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natsuo Kirino
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ungehindert beim Umziehen zuschauen. Kazuo entdeckte jetzt das strenge Profil der Frau. Sie presste die Lippen aufeinander, und man sah die Falten um ihre Mundwinkel. Ihm wurde klar, dass sie noch älter sein musste, als er gedacht hatte. Wahrscheinlich war sie nicht viel jünger als seine Mutter, die bald sechsundvierzig wurde. Einer Frau wie ihr, bei der man nie wusste, was sie gerade dachte, begegnete Kazuo zum ersten Mal. Bisher war die jüngere Schöne, die sonst immer mit ihr zusammen war, mehr nach seinem Geschmack gewesen, doch inzwischen ließ sich die starke Anziehungskraft, die diese rätselhafte Frau auf ihn ausübte, kaum noch leugnen, das spürte er genau.
    Er beobachtete, wie sie ihre Jeans auszog, und seine Finger, zwischen denen er die Zigarette hielt, zitterten leicht. Reflexartig schlug er die Augen nieder, nur um gleich darauf wieder den Kopf zu heben, weil er sie doch anschauen wollte – da traf er ihren Blick. Sie hatte gerade die Arbeitshose hochgezogen, ihre Jeans lag zusammengesunken auf dem Boden. Vor Scham wurde Kazuo rot. Aber die Frau starrte wie durch ihn hindurch auf die Wand hinter ihm. Ausdruckslos. Dass sie ganz anders wirkte als noch heute Morgen, hatte er zunächst auf ihren verrauchten Zorn ihm
gegenüber zurückzuführen gehofft. Aber das war es nicht – nein, sie beachtete ihn nun gar nicht mehr, was viel schlimmer war.
    Die Frau und die Meisterin kamen mit den weißen Kochmützchen in der Hand wieder in den Aufenthaltsraum. Sie wollten anscheinend sofort zur Fabrik hinunter und gingen wortlos an ihm vorbei. Rasch prägte Kazuo sich die Gestalt der Schriftzeichen ein, die auf dem Namensschild an ihrem Kittel standen.
    Die meisten Beschäftigten waren schon die Treppe zur Fabrikebene hinuntergegangen. Kazuo suchte am Brett neben der Stechuhr die Karte der Frau heraus. Dann sah er sich nach einem brasilianischen Kollegen um, der Japanisch konnte, und fragte ihn: »Wie liest man das bitte?«
    »Ka-tori, Masa-ko.«
    Als er sich bei dem Mann bedankte, der vor dreißig Jahren nach Brasilien ausgewandert und nun wieder nach Japan zurückgekommen war, zog der ihn auf: »Was denn, hast du dich etwa in die verguckt? Sie ist doch viel zu alt für dich!«
    Kazuo erwiderte mit ernstem Gesicht: »Ich muss ihr etwas zurückgeben, was ich mir geliehen habe.«
    »Geld?« Der Mann lachte.
    Wenn es doch bloß um Geld ginge! Kazuo kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern ging verstohlen zum Brett zurück, um die Stechkarte wieder an ihren Platz zu stecken.
    Masa-ko Ka-tori – das Wissen um ihren Namen vergrößerte die Sonderstellung noch, die die Frau bei ihm einnahm. Anhand der Eintragungen auf der Stechkarte, die er sich genau ansah, bevor er sie zurücksteckte, war zu ersehen, dass sie jeden Samstag frei hatte. Unter dem gestrigen Datum stand als Eintrittszeit 23:59 Uhr. Das war zweifellos seine Schuld gewesen, aber es war auch der einzige Beweis für eine Verbindung zwischen ihnen. In dem mit »Katori, Masako« beschrifteten Fach des Schuhschranks stand ein verbeultes, ausgetretenes Paar Turnschuhe. Kazuo meinte ihre Wärme spüren zu können.
    Rasch schrubbte und desinfizierte er sich Arme und Hände, beeilte sich, durch den Hygiene-Check zu kommen, und ging dann langsam die Treppe zur Fabrik hinunter. Denn er wusste, dass die Arbeiterinnen sich vor Schichtbeginn direkt dort unten stauten. Wie erwartet reichte die Schlange der Teilzeitkräfte, die darauf
warteten, dass das Tor endlich aufging, bis zum Treppenende. Kazuo suchte nach Masako, doch das war schwierig, denn mit Haube und Mundschutz sahen alle ziemlich gleich aus.
    Sie stand direkt vor ihm. Sie war als Einzige aus der Reihe ausgeschert und starrte auf einen Punkt weiter vorne. Kazuo folgte ihrem Blick und war erstaunt, dort die blauen Plastikkübel zu entdecken, in denen der Abfall entsorgt wurde. Ob sich darin etwas befand, das sie irgendwie beschäftigte? Kazuo beugte sich über das Geländer und spähte hinein. Es lagen nur Lebensmittelreste darin, die bei der Arbeit in der Betriebsküche auf den Boden gefallen waren: Schweinefleisch-Nuggets, fertig frittierte Tempura-Happen und Ähnliches. Als er sich wieder umdrehte, erfassten ihn Masakos Augen, und es traf ihn der kühle Hauch, der von ihrem Blick ausging. Kurz entschlossen sprach Kazuo sie an: »Bitte, also...«
    »Was?«, erwiderte Masako mit tiefer, durch den Mundschutz undeutlicher Stimme.
    »Bitte, es tut Leid – es tut mir Leid!«, brachte Kazuo nur hervor, da er

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