Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
keine anderen Worte wusste, um auf Japanisch um Verzeihung zu bitten. Unbeholfen fügte er noch hinzu: »Ich, ich will mit Ihnen sprechen!«
Aber er konnte nicht erkennen, ob die letzten Worte Masakos Ohren noch erreicht hatten, denn sie hatte sich brüsk von ihm abgewandt und blickte mit harter, unnahbarer Miene wieder starr nach vorne auf das Tor. Kazuo versetzte es einen Schlag, derart ignoriert zu werden, und er kam sich erbärmlich vor, weil er so zuversichtlich gewesen war, zu glauben, er würde es schon irgendwie schaffen, Masakos Verständnis zu erringen.
Das Tor ging auf, es schlug zwölf – Schichtbeginn. Die Frauen strömten nacheinander hinein und begannen mit der Reinigung und Desinfektion der Hände und Unterarme. Kazuo gehörte zu der Truppe von Arbeitern, die die Lunchpaket-Zutaten auf Transportwagen aus der Küche heranschaffen und nachfüllen mussten, deshalb hatte er sich zu Schichtbeginn in der Betriebsküche seitlich der Fabrik einzufinden. Er entfernte sich von der Schlange der Arbeiterinnen und ging dorthin.
Plötzlich freute er sich regelrecht auf seine Arbeit, die er bisher immer als Qual empfunden hatte. Er hatte die Aufgabe, den kalten, schweren Reis, der in Kübeln in der Küche bereitstand,
in die automatischen Abfüllmaschinen am Kopf jeder Fließbandreihe zu füllen. Eine verantwortungsvolle, harte Arbeit, denn wenn er zu spät kam, stand die Reihe still. Aber er würde oft in Masakos Nähe sein können, da sie mit der Meisterin zusammen immer vorne am Fließband stand.
Als er die Kübel mit dem weißen Reis in die Fabrik fuhr, führten Masako und die Meisterin wie erwartet die mittlere Arbeitsreihe an.
»Schnell, es ist schon fast nichts mehr drin«, drängte ihn die Meisterin. Kazuo stemmte den schweren Kübel mit beiden Händen hoch und füllte den kalten Reis in die Maschine. Masako, die mit Stapeln von Plastikschalen hantierte, würdigte ihn keines Blickes. Aus seiner Position, keinen Meter von ihr entfernt, blickte Kazuo von der Seite verstohlen in ihr Gesicht. Er konnte nur die Augen erkennen, der Rest war von Kochmützchen und Mundschutz verdeckt: Sie hielt die Lider gesenkt, als bedrückte sie etwas. Auch die Frau, die Meisterin genannt wurde und sonst immer so aufbrauste, viel mehr lachte und schimpfte, war heute merkwürdig still.
Kazuo fiel auf, dass die beiden anderen Frauen, die junge Schöne und die Dicke, die gewöhnlich mit Masako und der Meisterin in derselben Reihe arbeiteten, fehlten.
8
»Endlich! Wo hast du bloß so lange gesteckt, Mutter!« Eine Stimme, mit der sie im Leben nicht gerechnet hätte, überraschte Yoshië, als sie völlig fertig und am Ende ihrer Kräfte von Masako nach Hause kam. Ungeduldig riss sie sich am Eingang die Schuhe von den Füßen und stürzte ins Wohnzimmer. Tatsächlich: Kazuë war da!
Ihre Kolleginnen in der Fabrik wussten nichts davon, aber Yoshië hatte zwei Töchter. Von Kazuë hatte sie ihnen nie etwas erzählt, weil es ihr unerträglich gewesen wäre, obwohl sie doch ihr eigen Fleisch und Blut war.
Inzwischen musste Kazuë einundzwanzig sein. Im Alter von achtzehn Jahren hatte sie die Oberschule abgebrochen und war mit einem älteren Mann durchgebrannt; seither hatte sie sich nicht ein einziges Mal blicken oder auch nur etwas von sich hören
lassen – ganze drei Jahre hatte sie ihre Tochter nicht gesehen. Aus Freude, aber auch, weil sie ahnte, dass da wieder eine Menge Unannehmlichkeiten auf sie zukommen würden, seufzte Yoshië tief. Missratene Tochter hin oder her, sie war trotzdem erleichtert, Kazuë wiederzusehen. Sie versuchte, ihre Überraschung und Verwirrung so gut es ging in den Griff zu bekommen, und studierte zum ersten Mal seit drei Jahren das Gesicht ihrer Tochter.
Kazuës glattes, in einem unnatürlichen Kastanienbraun gefärbtes Haar reichte ihr bis zu den Hüften, wo ein kleiner Junge mit beiden Händen in den Spitzen hing und zu Yoshië aufschaute. Das musste ihr erstes Enkelkind sein, das vor etwa zwei Jahren geboren worden war, wie sie nur vom Hörensagen wusste. Es ähnelte diesem dahergelaufenen Nichtsnutz aufs Haar.Yoshië betrachtete den Jungen ohne besonderes Wohlgefallen. Er war mager, hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe, und es lief ihm, was man heutzutage bei Kindern nur noch selten sah, grüner Rotz aus der Nase. Kazuës Freund war ein unzuverlässiger Kerl, der nichts Vernünftiges gelernt hatte, keiner anständigen Arbeit nachging und sich auf der Straße herumtrieb. Als ob es ihre Gefühle
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