Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
erahnen könnte, blickte das Kind misstrauisch in das müde Gesicht seiner Großmutter, die wie aus heiterem Himmel vor ihm stand.
»Wo warst du die ganze Zeit? Nicht ein einziges Mal hast du angerufen! Wieso tauchst du jetzt plötzlich hier auf? Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll!«, fuhr sie ihre Tochter barsch an. Die Zeiten, da sie vor Kummer und Wut nicht mehr ein noch aus gewusst hatte, waren längst vorbei. Jetzt sorgte sie sich insgeheim nur noch darum, dass ihre jüngste Tochter genauso werden könnte. Und wenn Kazuë sich wieder hier einnisten sollte, würde das mit Sicherheit schlechten Einfluss auf Miki ausüben. Außerdem war sie selbst gerade zum Mittäter eines Verbrechens geworden, dessen Spuren noch beseitigt werden mussten.
»Na, das ist ja eine feine Begrüßung! Deine Tochter kommt nach drei Jahren nach Hause, und du freust dich nicht einmal. Guck mal hier, das ist dein kleines Enkelchen!« Kazuë hob übertrieben die Augenbrauen, die sie dünn nachgezogen hatte wie eine Oberschülerin. Sie wollte mädchenhaft jung erscheinen, doch man sah auf den ersten Blick, dass das Leben bereits deutliche Spuren hinterlassen hatte: Die Erschöpfung stand ihr im Gesicht geschrieben.
Beide, Mutter und Kind, trugen alte, ärmliche Kleidung und wirkten heruntergekommen.
»Aha, mein Enkel. Wie heißt er denn?«, fragte Yoshië mit verbittertem Unterton, denn nicht einmal das hatte sie sie wissen lassen.
»Issey. Geschrieben mit den Zeichen für ›ganzes Leben‹, weißt du, wie bei Issey Miyake, dem berühmten Modeschöpfer.«
»Kenn ich nicht«, erwiderte Yoshië missmutig, und Kazuë verzog das Gesicht. Ihre fahrige Sprechweise erinnerte sie an früher.
»Was soll das? Da komm ich extra nach Hause, und du verbreitest so’ne miese Stimmung. Da wird einem ja schlecht! Nun sieh sich einer diese Fratze an! Was hast du bloß? Du siehst total müde aus. Oder kommt das von deiner schlechten Laune?«
»Ich hab die ganze Nacht gearbeitet, ich mache Nachtschicht in einer Lunchpaket-Fabrik.«
»Und das hat bis jetzt gedauert?«
»Nein, ich war noch bei einer Freundin.« Siedend heiß fielen Yoshië die Beutel mit den Leichenteilen ein, die Masako ihr mitgegeben hatte. Sie hatte sie in eine stabile Papiertüte zusammengepackt. Sie erfand einen Vorwand für Kazuë und versteckte die Tragetasche hinter dem Mülleimer in der Küche.
»Wann schläfst du denn eigentlich? Du machst dich ja ganz kaputt!« Kazuë, die um die Hüften herum etwas zugelegt hatte und gegenüber früher gesetzter wirkte, heuchelte Besorgnis. Dabei hatte sie damals, genauso wie Miki heute, dieses enge Haus mit der bettlägerigen alten Frau gehasst und nichts Besseres zu tun gehabt, als abzuhauen. Jetzt half es auch nichts mehr, ihr all den Kummer aufzutischen, den sie ihr damit bereitet hatte. Alles, was ihr nicht passte, was sie nicht hören mochte, worüber sie sich ihr Köpfchen nicht zerbrechen wollte, hatte sie doch zeitlebens bei ihrer Mutter abgeladen. Selbst in Yoshië, die den Fleiß zum obersten Prinzip erhoben hatte, regte sich nun plötzlich der Widerspruch gegen die rücksichtslose Tochter.
»Und wer soll sich dann um deine Oma kümmern? Tagsüber ist doch niemand zu Hause! Hast du mir etwa jemals geholfen?«
»Ach, hör schon auf!«
»Eben. Es ist halt nicht zu ändern. Verrat mir lieber, wie’s Oma geht – ist alles in Ordnung?«
Beunruhigt schaute Yoshië, die ihrer Schwiegermutter nur schnell das Frühstück gefüttert und die Windel gewechselt hatte, bevor sie Hals über Kopf zu Masako gefahren war, in das hintere Sechs-Matten-Zimmer hinein. Die alte Frau lag ruhig da und schien dem Gespräch zu lauschen, denn ihre Augen waren weit offen.
»Tut mir Leid, dass es so spät geworden ist.«
Kaum hatte Yoshië sich entschuldigt, verzog die alte Frau den Mund. »Pah! Wo warst du denn so lange, was hast du die ganze Zeit gemacht? Lässt mich hier einfach liegen! Ich wäre fast gestorben!«
Plötzlich wirbelte der Zorn in Yoshië auf und entlud sich in einem Orkan. Wieso bildeten sich eigentlich alle ein, sie könnten mit ihr umspringen, wie sie wollten? Ja, glaubten sie denn, sie wäre ein Roboter aus Stahl? Bevor sie noch etwas dagegen tun konnte, brüllte Yoshië los: »Dann krepier doch, um Himmels willen! Und wenn du dann endlich tot bist, werde ich dich zerstückeln und in den Müll schmeißen! Ja, und als Erstes werde ich dir den runzligen Hals abschneiden, hast du mich verstanden?!«
Nach ein paar
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