Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
nachzusehen, was los ist?«
»Ja, mach das besser.«
»Wenn ich bei ihr auftauche, kriegt sie wahrscheinlich den Schreck ihres Lebens.«
»Ja, aber wenn durch sie alles auffliegt, sieht es schlimm aus für uns«, antwortete Yoshië, während sie auf die Anzeige »Kein Wechselgeld« starrte, die gerade an dem Getränkeautomaten aufleuchtete.
Es würde das Ende bedeuten, wenn alles herauskäme. Allmählich bekam sie Angst. Ob nicht auch die Warnleuchte ihres Lebens schon längst aufblinkte?
»Das gilt für sie genauso, deshalb glaube ich nicht, dass sie zur Polizei läuft. Sorgen mache ich mir nur, weil sie so leicht unter Druck zu setzen ist.« Masako verfiel ins Grübeln, und die kleinen, steilen Falten zwischen ihren Augenbrauen vertieften sich bedenklich.
»Ich überlass das jedenfalls alles dir. Wie steht es eigentlich mit dem Geld von Yama-chan? Das geht doch in Ordnung, oder?«, fragte Yoshië völlig ungeniert. Jetzt, wo es schon so weit gekommen war, hielt sie es für besser, Masako die Denkarbeit und die Sorgen zu überlassen. Yoshië, die diese Rolle zu Hause schon zur Genüge erfüllen musste, begann es als angenehm zu empfinden, sich auf Masakos Stärke zu verlassen. Außerdem galt ihr größtes Interesse sowieso nur dem Geld, das ihr in Aussicht gestellt worden war.
»Ja, das ist alles geklärt. Sie will es sich von ihren Eltern leihen und auf jeden Fall bezahlen. Spätestens morgen gibt sie die Vermisstenanzeige auf.«
Während sie so eng zusammenstanden und sich leise berieten, kam ein junger Brasilianer auf sie zu, den sie vom Sehen her kannte, und grüßte sie. Er schien japanischer Abstammung zu sein, aber sein Körperbau war stämmig, und man sah sofort, dass er Ausländer war.Yoshië erwiderte seinen Gruß automatisch, aber Masako würdigte ihn keines Blickes. Verwundert fragte sie: »Was hast du denn?«
»Wieso?«
»Warum bist du so unfreundlich zu ihm?«
Auf dem Weg in den Umkleideraum sah Yoshië noch einmal kurz zu dem Brasilianer hinüber. Er stand einen Moment ratlos da und folgte ihnen dann. Masako kümmerte sich nicht darum, sondern fragte sie: »Weißt du, wo Kuniko wohnt?«
»Ja. In der großen Mietskaserne in Kodaira, soviel ich weiß.«
Masako schien im Kopf bereits den Stadtplan auszubreiten und das weitere Vorgehen zu planen. Yoshië konnte spüren, dass diese Angelegenheit für sie reine Geschäftssache war. Eine Geschäftssache, die sie auf keinen Fall vermasseln wollte. Für sie selbst jedoch, die ja am Anfang Yayois Mordtat so scharf verurteilt hatte,
verwandelte sich das Ganze in Geldmacherei. Yoshië schämte sich, und wieder bestürmte sie der Gedanke, wie erbärmlich sie doch war.
»Menschen können ziemlich leicht ins Straucheln geraten, findest du nicht auch?«, murmelte Yoshië, und Masako sah sie mitleidig an.
»Ja. Und dann ist es, als würde man auf einem Fahrrad ohne Bremsen einen Abhang hinunterrollen.«
»Du meinst, nichts und niemand kann einen dann noch stoppen?«
»Ja. Es sei denn, man fährt irgendwo gegen.«
Was würde sie zum Halten bringen, wogegen würden sie fahren? Was lauerte hinter der nächsten Kurve auf sie? Yoshië bebte vor Angst.
DRITTES KAPITEL
Raben
1
Yayoi stand in der Küche und schälte Kartoffeln für ein bescheidenes Abendessen, als ihr plötzlich die Westsonne in die Augen schien. Geblendet fuhr sie sich mit der Hand, in der sie noch das Messer hielt, an die Stirn und wandte sich ab.
Nur jetzt, in der kurzen Zeit mit den längsten Tagen im Jahr, fiel die tief stehende Sonne gegen Abend direkt durch das Küchenfenster herein. Einen Moment lang hatte sie schon geglaubt, Gott habe sein Urteil über sie gefällt und wolle sie nun für das schwere Verbrechen bestrafen, dessen sie sich schuldig gemacht hatte, indem er sein Licht wie einen Laserstrahl auf sie richtete, um das Böse in ihrem Innern auszumerzen. Dann würde sie jetzt sterben müssen. Weil sie eine böse Sünderin war, die ihren Ehemann umgebracht hatte.
Sie dachte das mit dem letzten Rest Vernunft, zu der sie noch fähig war, denn eigentlich kam es ihr, seit sie in jener Nacht dem mit der Leiche beladenen Wagen von Masako hinterhergeblickt hatte, die ganze Zeit so vor, als wäre Kenji einfach in der Dunkelheit verschwunden. Wenn die Kinder nach dem Papa fragten, antwortete sie: »Ja wirklich, wo er bloß stecken mag!«, und mit jedem Mal dauerte es ein klein wenig länger, bis ihr die dunklen Schatten jener Nacht wieder in den Sinn kamen. Wie war es nur
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