Die Un-Heilige Schrift
Paradies; zuvor verkündet er noch, dass Erlösung geschehen werde, wenn auch erst nach ungezählten Generationen:
Denn Geschlecht auf Geschlecht wird sich vergehen, bis sich erheben wird ein Geschlecht der Gerechtigkeit, und Vergehen untergegangen und Sünde gewichen ist von der Erde, und alles Gute nicht (erst noch) kommen soll auf sie. (Hoffmann-Übersetzung)
Obwohl also sowohl der Messias als auch die Erlösung der gesamten Menschheit prophezeit werden, konnte sich das Buch Henoch im Bibel-Mainstream nicht halten. Über die Gründe dafür kann einmal mehr spekuliert werden. Aufschlussreich ist sicherlich eine Beschäftigung mit der
Textgeschichte des Buches Henoch
Die Engel werden in den Abgrund gestürzt. Gustave Doré, 1866.
Die ältesten Teile des Henoch-Buches dürften aus dem 3. Jh. v. Chr. stammen. Fragmente zum 1. Hen liegen in Aramäisch, Hebräisch, Griechisch, Syrisch und Koptisch vor. Vollständig ist das Werk nur in Äthiopisch überliefert, was nicht weiter verwundert: die äthiopische Kirche hat das Buch als einzige christliche Kirche in ihren Bibelkanon aufgenommen. In der koptischen Bibel werden Teile des Epos als kanonisch geführt.
In den ersten drei christlichen Jahrhunderten war das Buch Henoch ausgesprochen populär, etliche Kirchenväter bedienten sich des Textes; darunter Origines, Irenäus und Clemens von Alexandria. Für Tertullian, den scharfzüngigen und griechisch-philosophisch beeinflussten Vater des Kirchenlateins, zählte das Werk zu den heiligen Schriften.
Spätestens die Synode von Laodikeia 364 (siehe: Entscheidungen in Laodikeia) machte dem ein Ende: Das Buch Henoch wurde aus der katholischen Bibel verbannt und mit der Ächtung verschwand auch Stück für Stück seine Bedeutung und Bekanntheit. Über Jahrhunderte geriet das Werk im Westen in Vergessenheit. Erst in der Reformation begann man sich wieder dafür zu interessieren, Dantes Inferno scheint davon inspiriert, sicher ist es John Miltons episches Gedicht „Paradise Lost“ aus dem 17. Jahrhundert; es sollte aber bis 1773 dauern, bis zur Rückkehr des schottischen Entdeckungsreisenden James Bruce aus Äthiopien, bis der westlichen Welt der vollständige Text wieder vorlag.
Das Buch Henoch nahm viel christliches Gedankengut vorweg – wurde es gerade deshalb verbannt?
Obwohl das Buch Henoch lange vor der Zeitenwende entstanden ist, wirkt es theologisch weit mehr christlich als jüdisch. Erstmals ist hier von Himmel und Hölle die Rede, von Auferstehung und Erlösung und, von zentraler Bedeutung, vom Kommen des Auserwählten (Gesalbten, Messias, Christus).
Der Text ist ein Epos von wahrhaft elementarer Wucht, prophetisch, apokalyptisch und ausgesprochen originell. Zu originell möglicherweise: Warum genau das Buch Henoch aus fast allen Bibeln entfernt wurde, kann aus heutiger Sicht nur gemutmaßt werden. Der Verdacht drängt sich aber auf, dass dieser Text einfach zu gut war, zu viele christliche Ideen als das entlarvte, was sie natürlich waren – Übernahmen von Gedankengut und nicht ureigene Erfindungen.
Der Satan in seiner ganzen ursprünglichen Glorie. William Blake, 1805
Am fatalsten war aber möglicherweise der Umstand, dass das Buch Henoch das Jesus zugesprochene Monopol auf Erlösung hintertreibt: Henoch wird erlöst, ganz ohne Jesus. Für eine Kirche, die alles auf die eine Messias-Karte setzte und unter enormem Profilierungsdruck stand, war dies verständlicherweise ein vollkommen untragbarer Zustand. Wie populär das Buch Henoch wirklich war, konnte nur vermutet werden – bis am Toten Meer ein spektakulärer Fund gemacht wurde, der darauf und auf manches andere eine Antwort gab. Doch auch neue Fragen ließen nicht auf sich warten.
Qumran – Kontroverse ohne Ende
Wie kein anderer historischer Fund des vergangenen Jahrhunderts erregten und erregen die Schriftrollen vom Toten Meer die Gemüter. Das historische Bild, das sich durch die fast 900 zum Großteil nur in Fragmenten erhaltenen Schriftrollen ergab, erhellte die Geschichte des antiken Judentums und machte den alttestamentarischen Kanonisierungsprozess transparenter.
Qumran gilt als der Handschriftenfund des 20. Jahrhunderts – zu Recht?
Für die Jesus-Bewegung ermöglichten manche Schriftfunde eine etwas bessere Orientierung in den damaligen, verwirrenden Verhältnissen einer Unzahl konkurrierender Sekten.
So nüchtern sich dies hier liest, so emotional und aufgeschaukelt gestaltete sich besonders in den frühen 90er-Jahren des vorigen
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