Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
öffnete wieder die Augen. Sie spürte etwas Kaltes auf ihrem Bein. Bradette hatte ihr die Hand aufs Knie gelegt. Er schaute starr und keuchte. Clémentine dachte, er würde sich gleich übergeben. Sie streckte die Hand aus, um sie ihm an die Wange zu legen … Sie erstarrte vor Entsetzen. Bradette war, während er ihr Bein festhielt, mit etwas beschäftigt, was kleine Jungen normalerweise nur in ihrem Bett taten, unter der Decke, wenn es ganz dunkel war. Clémentine drückte ihm die flache Hand aufs Gesicht. Bradette warf sich über sie und versuchte, ihr in die Brust zu beißen. Sie stieß ihn von sich, sie fielen zu Boden und rollten über den Gang. Bradette richtete sich auf. Er lachte abscheulich und begann zu schreien:
»Ich hab dich drangekriegt, du dumme Kuh! Ich hab’s geschafft! Ich hab’s geschafft!«
Die anderen Lehrerinnen kamen herbeigerannt. Clémentine blieb entsetzt am Boden liegen, vor Abscheu gelähmt.Bradette sah um sich. Der Gang war auf der einen Seite von Mademoiselle Baril und auf der anderen von Madame Désilets versperrt. Vorsichtig näherte sich ihm Mademoiselle Pichette, seitlich, wie im Krebsgang. Schon kamen die ersten Schüler, um ihnen Hilfe zu leisten. Bradette sprang über Clémentine hinweg und flüchtete wendig wie ein Affe über die Rückenlehnen der Bänke, wobei er im Übermut seines Irrsinn auch noch dessen Schreie imitierte. Plötzlich blieb er stehen.
»Ich bin der Vater! Ich!«, brüllte er und schlug sich dabei mit den Fäusten auf die Brust.
Er rutschte mit einem Fuß von der Lehne ab und fiel zu Boden. Benommen versuchte er, wieder aufzustehen. Mademoiselle Robillard wollte ihn zurückhalten. Er hieb ihr mit der Faust in den Unterleib. Die Lehrerin knickte in sich zusammen. Bradette lief weiter Richtung Ausgang. Der neue Vikar wartete dort wie ein Catcher auf ihn, die Soutane bis zu den Knien gelüpft. Bradette schlüpfte zwischen seinen Beinen hindurch und der Priester fiel hintüber auf den Allerwertesten. Da öffneten sich sperrangelweit die Kirchentüren, und die Mädchen der École Marie-Reine erschienen mit ihren Papierflügelchen an den Schultern. Bradette warf sich in die Menge. Heiligenscheine flogen, Rockzipfel, einem Halbdutzend von ihnen riss er die Flügel ab und zerzauste ihnen die Haare. In heller Aufregung griffen die Nonnen ein. Sie suchten ihn unter dem Gewühl der weißen Röcke, der um sich schlagenden Mädchen, der Schreckens- und Überraschungsschreie. Bradette war nicht mehr da, Bradette war entkommen.
Der Vikar begann sich zu fragen, zu welchen Irren man ihn da gesteckt hatte. Auf eine solche Gemeinde hatte ihn das Seminar nicht vorbereitet. Die Mädchen trampelten mit denFüßen, plärrten aus vollem Halse. Er verkündete den Nonnen, das Fest sei abgesagt, und zog ohne Umschweife das Messgewand aus. Dann ging er zu Clémentine. Die Haare standen ihm zu Berge.
Die Lehrerin hatte sich wieder in die Bank gesetzt, die Hände gefaltet, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Sie schaute zu Boden.
»Haben Sie sich weh getan?«, fragte er.
Sie schwieg. Der junge Mann schwankte in seiner Soutane hin und her. »Ein Priester kann seine Hände nicht auseinander nehmen, ohne sie sich im nächsten Moment wieder vor den Bauch zu halten«, dachte sie deprimiert. Er hatte schöne Hände, feingliedrig und knochig, wie Bruder Gandon. Clémentine hatte das Gefühl, sie zu kennen, und mit einer Plötzlichkeit, für die sie sich selbst verachtete, kamen ihr trotz aller Gegenwehr die Tränen in die Augen. Der Vikar fuhr aus der Haut:
»Was haben Sie denn bloß mit dem Kind gemacht?«
Clémentine zuckte die Schultern. Sie hatte nur Augen für ihre vier Kolleginnen, die bei den Taufbecken versammelt standen.
»Entschuldigen Sie mich, Pater.«
Sie stand auf, schob ihn achtlos beiseite und ging geradewegs auf die Frauen zu. Der Priester spürte den Schweiß in seinem Nacken. Er versuchte, Clémentine den Weg zu versperren, stolperte aber elendig.
Clémentine packte sich Mademoiselle Robillard und drehte sie zu sich. Die anderen wichen zurück.
»Wenn ich«, sagte sie, »jemandem etwas zu sagen habe, dann sage ich es ihm ins Gesicht.«
Sie wartete mit verschränkten Armen.
»So, Sie haben mir also nichts mehr zu sagen? Haben Sie Ihre Zunge verschluckt? Tun Sie sich meinetwegen keinen Zwang an! Ich weiß genau, was Sie hinter meinem Rücken sagen. Dass der kleine Bradette meinetwegen verrückt geworden ist! Dass er meinetwegen verrückt geworden ist und
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