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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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ließ er den Blick schweifen. Es verlangte ihn danach, sich zu vergewissern, dass alles noch da war, dass um ihn herum nur Gegenwart war. Aber die Dinge entzogen sich ihm, schienen ihm den Rücken zuzukehren, und er hatte das herzzerreißende Gefühl, dass sie ihn verrieten und den Dämonen auslieferten. Hilfesuchend blickte er zum Marienbild. Die Heilige Jungfrau schaute anderswohin, über seinen Kopf hinweg, auch sie ließ ihn im Stich. Remouald raffte all seinen Mut zusammen.
    Da kam der Anfall. Dieses Gefühl kurz nach dem Einschlafen, wenn einem der Fuß entgleitet und man die Stufe verfehlt, so fühlte sich Remouald in diesem Augenblick. Kampfbereit fuhr er herum. Niemand war da. Er wartete auf die nächste Attacke. Das Geräusch war fort. Er hörte nur noch seinen eigenen Atem, rau und keuchend … Aber das Geräusch kehrte zurück, diesmal in seinem Kopf; wie ein wildes Tier, dem man die Käfigtür öffnet, hatte es sich in ihn gestürzt. Abgründe taten sich vor Remouald auf, er wich zurück. Von allenSeiten fielen Mäuler über ihn her. Er schlug mit den Armen in die Luft, schüttelte wütend den Kopf zu allen Seiten, aber mit jeder Bewegung verfing er sich nur noch mehr. Er schleifte sich mit dem Rücken auf den Stufen rückwärts die Treppe hinauf. Ihm schwanden die Kräfte. Mitten auf der Treppe blieb er liegen, mit angstgeweiteten Augen, der Erinnerung ausgeliefert, die mächtig war wie eine Spinne in der Mitte ihres Netzes.
    Remouald war dreizehn Jahre alt, als sich der Brand ereignete, der Séraphons Holzhandlung vernichtete. Die Einzelheiten der Geschichte waren der Bevölkerung auf Anordnung des Gerichtes sorgsam verschwiegen worden. Man hatte sich damit begnügt zu betonen, der Brand sei das Werk eines Irren.
    Fremde hatten sich bereiterklärt, Remouald für einige Zeit zu sich zu nehmen: die Familie Costade vom Bestattungsinstitut. Da ihn ein Gehirnfieber niedergestreckt hatte, wurde er in ein Zimmer gesperrt, zu dem außer dem Arzt und der Krankenschwester niemand Zugang hatte. Nicht einmal seine eigene Mutter durfte er sehen.
    Es war ihm ohnehin egal: Er wollte mit niemandem mehr etwas zu tun haben, erwartete nichts mehr. Hätte man ihn mit ausgebreiteten Armen und einem erhobenen Bein auf den Tisch gestellt, hätte er ohne mit der Wimper zu zucken stundenlang so ausgeharrt. Er gefiel sich in Gleichgültigkeit, sah nichts, hörte nichts, fühlte nichts. Mit leeren Augen verschlang er, was ihm in den Mund gesteckt wurde … Als das Fieber zurückgegangen war, blieb die Frage, was mit ihm zu tun sei. Pfarrer Cadorette vertrat die Meinung, man solle das Kind seiner Mutter zurückgeben; angesichts ihres Zustandes erklärte Dr. Rocheleau, das stehe außerfrage. Ein Richterentschied. Eine Woche darauf kamen zwei Männer in Soutane und nahmen Remouald mit.
    Das Internat Saint-Aldor-de-la-Crucifixion war durch einen Kilometer Wald vom Rest der Welt abgeschnitten. Eine nicht gerade geringfügige Umstellung für ein Kind, das noch nie in seinem Leben aus dem Viertel herausgekommen war, in dem es geboren wurde, das weder Land noch Seen kannte und Wälder für eine Märchenkulisse hielt. Die meisten der Kinder dort wären sicherlich den Weg ins Gefängnis gegangen, wenn man sie nicht aufgenommen hätte, denn es gab niemanden unter dem Mond, den ihr Schicksal kümmerte. Solange der Platz reichte, nahm die Leitung des Hauses jeden an, der ihr gebracht wurde. Hier wohnten Vatermörder, Zurückgebliebene, Vagabunden, Verwahrloste. Es war eine mildtätige Einrichtung, und obendrein demokratisch, was bedeutete, dass alle Bewohner gleich behandelt wurden, dass für alle dieselben Strafen galten, vom Mörder bis zum Waisenkind.
    Remouald, der bereits bei seiner Ankunft ein gebrochener Mensch war, erwies sich als mustergültiger Häftling. Er fand es nicht übertrieben, mitten in der Nacht von Glockengeläut geweckt zu werden, um sein Bettzeug aufzuschütteln, ebenso wenig wie die Ohrfeigen und das eisig kalte Wasser der morgendlichen Dusche. Seine Fügsamkeit war entwaffnend. In die Kapelle dagegen musste man ihn mit Gewalt zerren, alles, was einer Kirche ähnelte, löste panische Angst in ihm aus: Er fiel vor der Tür zu Boden, hielt sich schützend die Arme vor die Stirn, bekam Nasenbluten. Man nahm sich seiner an, und siehe da, ein durchschlagender Erfolg: Unter den erstaunten Augen der Oberen stürzte sich Remouald in die Frömmigkeit und wurde das gottergebenste Kind in der ganzen Gemeinschaft.
    Da das

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