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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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dass seine großen Zähne zu sehen waren. Remouald betrachtete ihn gleichgültig.
    Der Direktor kam zurück und übergab dem Schüler einen Koffer, auf dem ein Name stand. Und so erfuhr Remouald, dass er fortan nicht mehr Remouald Bilboquain, sondern Remouald Tremblay heißen würde. »Deine Mutter hat wieder geheiratet«, erklärte der Direktor. »Du kannst nun wieder bei ihr wohnen.« Im Schock sah Remouald nicht die Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Der Direktor ließ sie wieder sinken. Er deutete durch das Fenster auf einen Wagen, der draußen wartete.
    Der Himmel war so blau und der Schnee so grell, dass seine Augen schmerzten, als würde er in die Sonne schauen. Die Schüler hingen an den Fenstern, um ihn abfahren zu sehen. In ihren Gesichtern, die ohne Herzlichkeit waren und von einer trostlosen Härte geprägt ständig so aussahen, als würden siegleich anfangen zu weinen – die aber, wie er wusste, niemals weinten –, in diesen Gesichtern stand die starre Traurigkeit einer Wolfsmeute, die mit kaltem Blick den Kadaver eines der ihren betrachtet. Keines der Kinder grüßte, keines verzog das Gesicht. Die durchsichtige Fensterscheibe bildete zwischen ihnen eine unendlich dicke Schicht. Es hatte genügt, einen Schritt vor die Tür zu treten, um nicht mehr in ihr Reich zu gehören.
    Ein paar Schritte vor dem Wagen blieb Remouald stehen.
    Auf dem Sitz saß eine Frau. Sie trug einen Hut, auf dem der Zweig einer Stechpalme steckte. Es war seine Mutter. Er erkannte sie nicht wieder. Séraphon, der neben ihr saß, hingegen schon. Mit zitternder Stimme fragte sie Remouald:
    »Bringen Sie den Koffer meines Sohnes?«
    Remouald stellte sein Gepäck hinten in den Wagen und stieg neben ihr ein:
    »Ihres Sohnes, Madame …?«, fragte er.
    Séraphon kicherte und peitschte die Pferde an.
    Die ersten Tage waren nicht lustig, Célia weinte unaufhörlich. Sie hatte einen kleinen Jungen in Erinnerung, mit hellen Augen, blonden Haaren und einem Lachen, das erfrischend wie ein Strauß Margeriten war, und nun gab man ihr diesen erloschenen Riesen zurück, der schon erste kahle Stellen auf dem Kopf hatte und sich seines eigenen Daseins schuldig, verstört und ausgehungert in einer Küchenecke verkroch. Célia pflanzte sich vor Remouald auf, hob sein Kinn und untersuchte ihn mit sarkastischer Gründlichkeit, dann wich sie zurück und fuchtelte wie eine Sterbende entsetzt mit den Händen: »Das ist er nicht! Das ist nicht mein Sohn!«, schrie sie. Rasend stürzte sie sich in den Alkohol. Séraphon rieb sich die Nase, lachte leise und sagte, sie sei verrückt.
    Mit der Zeit begann Célia sich an die Gegenwart dieses Wesens zu gewöhnen und akzeptierte schließlich sogar, es beim Namen ihres Kindes zu rufen. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, jemals ein Kind namens Remouald gehabt zu haben. Sie tischte diesbezüglich die seltsamsten Geschichten auf, die sie vor sich hin starrend mit tonloser Stimme von sich gab. Die Geschichten amüsierten ihren Gatten sehr. Noch konnte Séraphon die Arme bewegen, die Treppe hinauf- und hinuntergehen, ein durchaus rüstiger ältlicher Herr. Er tat immerfort beschäftigt, denn sobald sie bemerkte, dass er ihr zuhörte, redete sie nicht mehr weiter. Sie schien mit sich selbst zu sprechen. Vielleicht auch mit Remouald.
    Ansonsten interessierte sie sich offenbar nur für ihn, wenn sie ihm Befehle erteilen konnte. Inzwischen ging sie wieder bei den Reichen des Viertels putzen und zwang ihn häufig, sie zu begleiten. Remouald untätig zu sehen verärgerte sie, und wenn ihr nichts mehr einfiel, das sie ihm auftragen konnte, übernahm Séraphon das Ruder. Remouald beklagte sich nie, selbst wenn die Anweisungen sich widersprachen, was nicht selten vorkam. Es war, als spielten Célia und Séraphon eine Schachpartie. Remouald wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Nachts in seinen Träumen konnte er ihre Stimmen bereits nicht mehr auseinanderhalten.
    Célia hatte immer wieder unerklärliche Wutanfälle, vor denen Séraphon Reißaus nahm. Die meiste Zeit jedoch war sie von gefügiger Wesensart. Sie bereitete und servierte die Mahlzeiten, stopfte die Socken, die Wäsche war immer tadellos sauber, und unter ihren von Alkohol und Drogen verzehrten Zügen hatte noch die stille Sanftmut des liebenswerten Mädchens überlebt, das sie einmal gewesen und das zerschmettert worden war. Dann wieder konnte sie tagelang damit verbringen, stummund in Träumereien versunken durch die Zimmer zu laufen. Selbst an den

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