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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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geschäftigsten Nachmittagen hielt sie bisweilen ohne ersichtlichen Grund im Staubwischen inne und betrachtete mit einem Ausdruck, in dem höchstes Bedauern und zärtliches Erstaunen lag, die Nippfigur in ihrer Hand. Remouald wagte kaum, sich ihr zu nähern. »Mama …«, sagte er nur. Sie erstarrte und befahl ihm barsch, die Vortreppe zu fegen.
    »Die habe ich gerade gefegt.«
    »Dann feg sie nochmal!«
    Andere Male schien sie plötzlich der Existenz Remoualds gewahr zu werden. Dann betrachtete sie ihn verblüfft, als erlebe sie eine Erscheinung. Sie ging zu ihm, schnupperte an seinem Hals, an seinen Ohren, an seinen Achseln, trat dann wieder zurück, um ihn prüfend zu mustern. Sie setzte sich und trank einen Schluck Caribou, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Remouald stand über die Kartoffeln gebeugt, die er zu schälen hatte, und konnte sich nicht dazu durchringen, sie anzusehen. Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel, sah, wie ihre Hand näherkam und ihm über die Haare streichelte. Er hörte ihre Stimme schmerzvoll, fassungslos flüstern: »Was haben sie bloß mit dir gemacht, mein armer Kleiner?« Zögerlich wagte Remouald seine Hand zu ihrer vor. Sie herrschte ihn an. Einmal schlug sie ihn sogar.
    Monate vergingen, Jahre. Die immer gleichen Bewegungen, die rituellen Gepflogenheiten fassten jede Stunde des Tages, jeden Tag der Woche in eine sich zunehmend verfestigende Wiederholung ein. Remouald ließ sich von einem Tag zum nächsten treiben und schob seinerseits sein Leben von Stunde zu Stunde, ohne einen Blick darüber hinaus zu wagen. Jedes Gestern fiel in dasselbe Nichts, in das morgen das Heute stürzen würde. Regenwürmer schieben sich durch den Boden,indem sie die Erde über die eine Körperöffnung aufnehmen und mit der anderen wieder ausscheiden: Genauso schob sich Remouald durch die Zeit. Er behielt nichts von seinen Tagen, leerte unausgesetzt sein Gedächtnis. Er lebte unter dem Diktat einer einzigen Stimme, die ihre Befehle bald aus dem Munde Séraphons, bald aus dem Munde seiner Mutter erteilte: Er unterschied sie nicht, es gab nichts zu unterscheiden. Der Gehorsam war ein Dauerstand der Gnade, da er ihn zum Schutz vor sich selbst am Gängelband nahm. Jedes andere Leben, das wusste er, wäre für ihn die Hölle gewesen. Begierig eilte er den Wünschen seiner Eltern voraus.
    Eines Nachts weckte Célia ihn, legte sich neben ihn, den Mund dicht an seinem Ohr, und erzählte ihm keuchend und leise, damit Séraphon sie nicht hörte, dass sie mit einem kleinen Mädchen schwanger sei, das nie das Licht der Welt erblicken würde. Es hatte lange gedauert, bis sie begriffen hatte, dass dieses kleine Mädchen zugleich auch ein kleiner Junge war, und weil es unmöglich war, gleichzeitig ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge zu sein, konnte das kleine Mädchen auf der Welt nicht existieren, was sicher kein Grund war, nirgendwo zu existieren. Die Seele des kleinen Mädchens war aus der Vorhölle entflohen. Sie drang in die Dinge ein, lebte eine Weile in einer Nippfigur, verbarg sich im Wandschrank und schlich sich manchmal sogar in Célias Schoß, und Célia sagte, ihr kleines Mädchen, das zugleich auch ein kleiner Junge war, heiße Joceline und sei, tot und lebendig zugleich, ihre eigene Großmutter, denn sie sei schwanger mit Jesus Christus. Remouald ergriff mit dem Haushaltsgeld die Flucht, betrank sich zum ersten Mal in seinem Leben, irrte wie gehetzt durch die Straßen und kehrte erst achtundvierzig Stunden später wieder heim, als er sich selbst nicht mehr ertragen konnte. Sobalder mit verwirrtem Blick und verdreckten Kleidern den Fuß in die Küche setzte, sprang Célia von ihrem Stuhl und fiel ihm weinend um den Hals. Séraphon weinte ebenfalls und küsste dabei das Geld, das noch übrig geblieben war. Unterwegs hatte Remouald ein Schlagholz aufgelesen, das er seiner Mutter überreichte. Sie prügelte ihn derart durch, dass er zwei Wochen im Bett verbrachte.
    Seit dem Brand war die Holzhandlung nur halbwegs und sehr dilettantisch wiederaufgebaut worden. Remouald, der nichts vom Geschäftemachen verstand, verschenkte das Holz gewissermaßen, und da der Handel langsam einging, sah sich Séraphon gezwungen, unter Verlust seine Häuser zu verkaufen. Schließlich und endlich musste die Holzhandlung schließen. Daraufhin wurde Remouald unter Fürsprache des Pfarrers in der Bank eingestellt. Es war eine Stellung mit bescheidenem Gehalt, aber zusammen mit den kleinen Tätigkeiten seiner Mutter reichte es

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