Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Bankangestellten wusste. Aber es war eines jener Geheimnisse, die sich nicht teilen lassen, die jede Annäherung ausschließen. So blieb zwischen ihnen nur eine unbeholfene Sympathie, die sich in stiller Scham und gesenkten Blicken ausdrückte. Manchmal dachte der Pfarrer, Remouald sei mit dreizehn Jahren gestorben, manchmal wünschte er es sich sogar, und im Erwachsenen habe nur ein Skelett ohne Erinnerung überlebt, in dem es nichts mehr gab, das leiden konnte. Aber wie sollte man das wissen, ohne die schrecklichen Fragen zu stellen, ohne zu riskieren, gerade diese Erinnerungen wieder wachzurufen? Ebenso gut konnte man zum Test, ob jemand, der am Boden lag, tot war oder nur schlief, ihn mit einer rotglühenden Eisenstange anstoßen.
Remouald kam zu ihm und hielt ihm ein gefaltetes Blatt hin.
»Das habe ich gestern in der Bank bekommen.«
Der Pfarrer faltete es auseinander. Es war ein Schmähbrief, mit den schlimmsten Wörtern, den unanständigsten Ausdrücken. Es war die Rede von Handlungen, im Zusammenhang mit Kindern. Der Brief endete mit einer Reihe von Beschimpfungen. Sein Verfasser nannte Remouald einen »verfluchten Wildfleischfresser!« ...
Cadorette war wie vor den Kopf gestoßen. Er las den Brief noch einmal aufmerksam, prüfte das Papier, um nach einem Hinweis zu suchen, der den Schuldigen entlarven könnte. Remouald schien vergessen zu haben, dass er da war. Er streichelte lächelnd eine Maus, auf die er beinahe getreten war. Siezitterte in seiner hohlen Hand wie ein Privatier, den der Fiskus in Verdacht hat. Als er sie wieder auf die Erde setzte, flüchtete sie in Zickzacklinien, die Spuren in den Schnee zogen. Zuckend wie eine Kaulquappe verschwand sie zwischen den Brettern.
»Solche Briefe«, sagte der Pfarrer aufgebracht, »verbrennt man, und zwar sofort! Sie verdienen es nicht, dass man sie auch noch aufbewahrt!«
Remouald nahm den Brief wieder an sich und steckte ihn zurück in die Tasche.
»Wie dem auch sei, was soll schon passieren? Ich sterbe sowieso.«
Der Pfarrer wippte mit den Beinen.
»Was erzählst du da für einen Unsinn, du Dummkopf? Warum sagst du, du musst sterben? Bist du krank? Los, antworte!«
Remouald entwand sich.
»Das habe ich nur so gesagt, Herr Pfarrer. Ich wollte damit sagen, dass solche Dinge keine Bedeutung haben, für niemanden, denn sterben müssen wir sowieso, alle und jeder, und am Ende führt es doch zu nichts. Nicht wahr, Herr Pfarrer?«
Für einen Moment verharrte der Pfarrer mit vorgebeugtem Oberkörper, als wollte er gleich zuschnappen – wären die Worte aus dem Munde eines anderen gekommen, so hätte man sie als Provokation auffassen müssen … Aber er seufzte lediglich. Bedrückend langsam hob er seine Mütze wieder auf, die sich von seinem Kopf verabschiedet hatte.
Geistesabwesend, in einem priesterlichen Reflex erkundigte er sich nach Séraphon. Remouald antwortete nicht. Er hatte sich soeben eine weitere Handvoll Nägel in den Mund geschoben.
Der Pfarrer schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er spät dran war. Er trat auf Remouald zu. Noch hatte er nur eine vageVorstellung von dem, was er ihm sagen würde, aber er war ganz durchdrungen vom Ernst des Augenblicks. Er öffnete den Mund und bekam im selben Moment einen seltsamen Schluckauf, der ihm mit knorpeligem Knacken bis in die Schläfen zog. Er lehnte sich leicht bei Remouald an und verweilte benommen einige Sekunden, wie betäubt. Es schien ihm wie eine Warnung. Aber wovor? Cadorette richtete sich wieder auf und jagte das unwohle Gefühl fort wie einen bösen Gedanken. Remouald schlug ruhig seine Nägel ein. Schließlich sagte der Pfarrer:
»Weißt du, mein Kleiner, du könntest wirklich wieder zur Kommunion gehen.«
Der Satz war ihm fast gegen seinen Willen über die Lippen gekommen. Es war das erste Mal seit fünfzehn Jahren, dass sie darüber redeten, und er fürchtete sich vor Remoualds Reaktion. Dieser spuckte seinen letzten Nagel aus und antwortete mit einem einfachen »Nein«. Cadorette legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Gott hat dir vergeben, Remouald, Er hat dir lange schon vergeben. Sieh mich an.«
Remouald gehorchte. Seine Augen waren erloschen, sein Gesicht ausdruckslos: ein im Frühling schmelzender Schneemann. Cadorette schüttelte mit betrübter Miene den Kopf.
»Also!«, sagte er mit einem freundschaftlichen Klaps. Er setzte seine Mütze wieder auf und hielt sie fest. »Und dass du mir eine schöne Kapelle zimmerst!«
Bedrückt entfernte sich der Pfarrer.
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