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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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Internat Saint-Aldor nicht zum Ziel hatte, Eliten auszubilden, betrieb man den Kult des Auswendiglernens. Auch darin zeichnete Remouald sich aus. Mit leerem Gedächtnis angekommen, konnte er alles darin unterbringen, was er wollte oder sollte. So stand er im Klassenzimmer und betete mit monotoner Stimme die Hauptstädte der ganzen Welt herunter, deren Namen keinerlei Bilder in ihm weckten, dann setzte er sich wieder. Dies hatte ihm eine gewisse Bekanntheit sowie die liebevolle Wertschätzung des Erdkundelehrers eingebracht, eines Mannes, der nicht sehr gut roch und nicht immer mitbekam, wenn die Schüler ihn verschaukelten. (Einmal hatte er Remouald ein Album mit ein paar Briefmarken geschenkt, das dieser bis zum heutigen Tage aufbewahrte, ohne sich dafür zu interessieren, und das Séraphon ironisch seine »Kollektion« nannte.) Dann gab es dreimal die Woche am späten Nachmittag den Katechismus zu lernen, Grammatikregeln aufzusagen und Wurzeln zu ziehen. Remouald tat alles, schlang alles ohne Unterscheidung in sich hinein.
    Inzwischen liefen in seinem absonderlich gewordenen Körper die seltsamsten Dinge ab. Es wimmelte in ihm von eigenständigem Leben, dessen Bedeutung er nicht zu begreifen vermochte; ohnmächtig sah er seiner Verwandlung zu wie den Geschehnissen einer Sage. Er war immer schon klein gewesen, klein zu sein lag für ihn in der Ordnung der Dinge, ebenso wie ein Junge zu sein, und plötzlich war er innerhalb eines knappen Jahres zu fast zwei Metern aufgeschossen. Die jähe Veränderung fesselte ihn ans Bett. Die Leitung war beunruhigt. Auf dem Bett ausgestreckt, sah Remouald wie eine gekochte Porreestange aus und fühlte sich auch manchmal so. Während seiner Fieberschübe hatte er den Eindruck, ungeheure Umwandlungen würden in ihm vonstatten gehen,er würde Brüste bekommen und zur Frau werden. Wenn es möglich war, nicht mehr klein zu sein, dann musste es ebenso gut möglich sein, kein Junge mehr zu sein, vielleicht nicht mal mehr ein Mensch, und sich in eine Fliege oder Spinne zu verwandeln. Der Erdkundelehrer verbrachte ganze Nächte an seinem Krankenbett. Im September schließlich konnte Remouald wieder aufstehen. Es war nichts anderes mit ihm geschehen, als dass er gewachsen war, was er nicht ohne Enttäuschung zur Kenntnis nahm. »In ein paar Monaten ist er ein kräftiger Kerl«, zeigte sich die Leitung erleichtert. Als der Frühling kam, war er immer noch genauso mager.
    In den drei Jahren, die Remouald auf dem Internat verbrachte, nahm er in keiner Weise an den Spielen seiner Kameraden teil. In seiner Freizeit ging er allein spazieren. Er suchte sich Holzstücke, drei oder vier Nägel, verschwand stundenlang mit einem Taschenmesser, und tags darauf konnte man bei den Holzverschlägen achtlos liegengelassene erstaunliche Modelle finden. Die Leitung beschloss, diese Begabung zu nutzen. Es gab immer ein Dach, ein Fenster oder einen Tisch zu reparieren. Remouald sagte nicht »Nein«. Die Situation sorgte natürlich für Neid. Doch war seine Erscheinung so verstörend, dass die Internatsschüler davon abließen, ihn zu peinigen. Der gebeugte Gang, die langen und strack an den Körper gepressten Arme erinnerten an einen großen Raubvogel, der scheu und angeschlagen von einem Fluch daran gehindert wurde, in sein Element zurückzukehren. Wenn er nachts aus der Kapelle kam, zogen sich manche Schüler, an denen er vorbeiging, die Decke über den Kopf.
    Aus diesem Grund wären seine Kameraden auch nie auf den Gedanken gekommen, ihn zum Freund haben zu wollen. Im Speisesaal zankten sie sich darum, nicht neben ihm sitzenzu müssen. Dem Erdkundelehrer gegenüber zeigte Remouald im Übrigen keinerlei Dankbarkeit. Auf den Fluren wurde getuschelt, dass dieser sich sonntags hinter einem Pfeiler verbarg und Remouald weinend beim Beten zusah.
    Als er sechzehn war, wurde er am Karfreitag zum Direktor bestellt. Remouald schlotterte vor animalischer Angst, als er sich dorthin begab. Entgegen jeder Erwartung zeigte sich der Direktor aber voller Anerkennung. Er legte große Prinzipien dar, sprach von Jesus Christus, erklärte Remouald, dass das Internat nur zu seinem Besten gewesen sei, alles im Brustton der Überzeugung, und Remouald stimmte ihm erstaunt zu. Beruhigt sagte der Direktor: »Gut«, und verließ das Zimmer.
    Der Erdkundelehrer, der ebenfalls im Raum war, saß im Hintergrund am Fenster. Mit feuchten Augen und der Schwerfälligkeit eines zärtlichen, flehenden Bären lächelte er den Jungen so breit an,

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