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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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zum Überleben. Zu der Zeit war Remouald achtzehn Jahre alt.
    Célia erkannte nie an, dass Remouald ihr leibhaftiger Sohn war, nicht einmal auf ihrem Leidensbett, denn der Marathon des Todeskampfes, dieses Wegbereiters der Reue, blieb ihr erspart. Sie starb ohne Worte, nur ein Seufzer im Schlaf, der nicht einmal genügt hätte, um ein Streichholz auszublasen.
    * * *
    Bleich richtete Remouald sich wieder auf. Der Anfall schien vorüber zu sein. Er stützte sich auf das Treppengeländer, um die Stufen wieder hinunterzugehen, er wusste, dass der Anfall Nachwirkungen haben konnte, eine letzte Zuckung, wie Wrackteile, die sich aus den Tiefen des Meeres lösen und miteinem schreiähnlichen Zischen die Wasseroberfläche durchstoßen. Normalerweise kamen diese Anfälle immer erst abends, sie waren auch der Grund, der Remouald in die Schenken trieb. Er trank nie zum Vergnügen, o nein. Einen Nagel, der vorsteht, muss man einschlagen. Und mit den Erinnerungen war es genauso.
    Er betrachtete die Votivkapelle. Der Dachstuhl war fast fertig. Das hieß, er würde die Arbeiten zum Fest der Unbefleckten Empfängnis abschließen können …! Er wischte mit dem Ärmelrücken über das Marienbild. Die Heilige Jungfrau lächelte ihn an. Remouald genoss diesen Moment des Vergessens, eines kostbaren, barmherzigen Vergessens, und dankte dem Himmel dafür. Hinter sich hörte er eine Kinderstimme.
    »Was hättest du denn vergessen sollen?«
    Remouald drehte sich um. Ein kleiner Junge von etwa zwölf Jahren stand vor ihm. Das war ihm noch nie passiert. Dieses Kind war er selbst . Remouald wischte mit den Händen durch die Luft.
    »Das kann nicht sein. Geh weg!«
    Das Kind war verschwunden. Remouald ordnete seine Bretter und wollte sich wieder an die Arbeit machen. Der kleine Junge hatte sich auf den Schornstein der Fabrik gesetzt und ließ unbekümmert die Beine baumeln.
    »Was willst du? Scher dich zurück, wo du herkommst.«
    Das Kind erlosch wie die Flamme einer Kerze.
    Remouald konzentrierte sich fieberhaft auf seine Arbeit. Eine prasselnde Feuersglut loderte in seinem Kopf. Der Junge hing am Querbalken des Dachstuhls und schaukelte hin und her. Remouald wich einen Schritt zurück und ließ den Hammer fallen. Der Junge lächelte ihn an. Wieder fragte er:
    »Woran sollst du dich denn nicht erinnern?«
    Remouald schüttelte den Kopf. Der Junge begann leise mit ihm zu sprechen. Er erzählte vom Leben vor dem Internat, vor dem Brand in der Holzhandlung . Remouald hob die Fäuste an die Schläfen. Dann schrie er:
    »Dich gibt es nicht! Scher dich zurück, wo du herkommst!«
    Das Kind löste sich in Luft auf. Remouald bekreuzigte sich und ließ zitternd die Hasenpfote sinken, die er aus der Tasche genommen hatte. Auf dem Marienbild lag wieder ein Schneefilm. Remouald machte ein paar Schritte wie ein Betrunkener. Er hörte ein Pfeifen und blickte auf. Ein Name zog am Himmel entlang, sank nieder und explodierte in seinem Kopf. Remouald blieb wie angewurzelt stehen. Er murmelte: »Joceline …?«, und legte die Hände auf die Ohren. Würde es denn niemals aufhören? Wieder stiegen mit entsetzlicher Lebendigkeit die Erinnerungen an die Zeit vor dem Internat, vor dem Brand in der Holzhandlung in ihm auf. Er sah alles, erinnerte sich an alles, durchlebte alles noch einmal. Das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen, war so heftig, dass er sich nach einem Gegenstand umsah, an dem er sich festhalten konnte. Er griff sich seinen Hammer, packte die Bretter und Nägel und hämmerte und hämmerte gegen das Heulen in seinem Kopf an. Dann hielt er es nicht mehr aus und ließ sich im Schnee auf die Knie fallen.
    » Erbarmen! «, flehte er mit zum Himmel erhobenen Gesicht.
    Aber Gott war offenbar mit anderen Dingen beschäftigt.

W enn sie mit ihrem eigenen Spiegelbild redete, nannte Clémentine Clément das »zu anderthalb allein sein«. Ihr innigster Wunsch war zu lachen, zu lachen um des Lachens willen, denn zu lachen hieß zu leben. Und weil man schon verrückt sein musste, um ganz allein zu lachen, arrangierte sie sich gelegentlich ein abendliches Tête-à-tête.
    Aber worüber sollte sie lachen? Über ihre Lehrerkolleginnen? Über die Kleider der Baril? Die Frisuren von Lucienne Robillard, die ihre Grammatikfehler an ihre Drittklässler weitergab (»Ich hatte ihnen doch erklärt gehabt, dass sie in keinster Weise …« und so weiter und so fort)? Darüber verzog sie nicht einmal den Mund: Eher geriet sie in Rage. Clémentine versuchte es mit etwas

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