Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Gekrakel, langen Zahlenreihen, Notenlinien.
Ja, während du davonliefst auf deiner Flucht nach vorn, begegnetest du, wo immer du zur Rast dein karges Gepäck absetztest, wieder diesem Kreuz, das dir die ganze Zeit gefolgt war. Und diese Stimme, die du hörst und die nach Ihr klingt, die bald »Ich, Jean- Baptiste«, bald »Du, Jean-Baptiste« sagt, die für dich das Wort ergreift und in der dritten Person von dir spricht, die unvermittelt verstummt, um Wochen später wieder einzusetzen, die Stimme, die dich vorwärts treibt, zu Boden wirft, wieder aufhebt, dich mit sich zerrt, dir zusetzt, ja, diese Stimme war, wie du richtig begriffen hattest, die Rache Gottes, der dich Seinem Gesetz unterwerfen will, aber du widersetzt dich, du weißt, dass Gott niemals Einfluss auf deine Seele gehabt hat und dass du am Ende gewinnen wirst. Und eine zweite Stimme bestätigt es dir, obwohl diese andere Stimme, die du, du Wahnsinniger, für die wahre Stimme deiner Seele hältst, vielleicht doch nur die Stimme Dessen ist, der lügt, der betrügt, der die verirrten Seelen zu Sich ruft, nur um sie noch weiter in die Irre zu führen .
Séraphon hörte, wie jemand stürzte und kurz darauf fluchte. Schnell legte er das Heft wieder an seinen Platz zurück, blies die Lampe aus und rannte in eine leere Box. Die Tür zum Pferdestall ging auf. Wilson.
An seinem Arm schlenkerte eine Lampe, die große, eigenwillige Schatten auf die Wände warf. Er rieb sich stolpernd die Augen wie ein einschlafendes Kind.
Er näherte sich der geheimen Holzplatte, die Séraphon nicht richtig wieder eingesetzt hatte. Dass das Heft auf dem Boden lag, schien ihn nicht zu wundern. Séraphon hielt den Atem an. Der Lehrling setzte sich im Schneidersitz in die Mitte des Stalls, stellte die Lampe neben sich und begann zu schreiben, das Heft auf den Waden, in der linken Schulter ein regelmäßig wiederkehrendes Zucken, so als wollte er sich von einer Last befreien.
Er schrieb in einem Zug, wie besessen, und während er den Stift über die Seiten huschen ließ, wippte sein Oberkörper sanft und gleichmäßig vor und zurück. In der Ferne war ein Miauen zu hören. Wilson hielt inne. Er sah sich misstrauisch um. Séraphon erwartete, dass er schrie: »Ich weiß, dass du da bist!« Aber Wilson sagte nichts.
Dann richtete er sich plötzlich halb auf, sein Körper zitterte. In der Dachluke erschien der Mond wie ein Auge, das sich nach tiefem Schlaf wieder öffnet. Wilson schien starr vor Angst:
»Ich dachte, du würdest nicht kommen. Du hast mir gesagt, du würdest nicht kommen!«
Er fiel auf die Knie und begann etwas zu murmeln, das Gesicht zum Fenster erhoben. Séraphon konnte nicht hören, was er sagte. Er wandte sich an das Licht, und das Licht schien ihm zu antworten.
»Ich schwöre, dass das nicht stimmt!«, schrie er plötzlich. »Ich schwöre, dass ich nicht mal auf die Idee gekommen bin!«
Er stand auf, machte wie benommen ein paar Schritte. Er wich zurück und rang die Hände. Dann stieß er einen entsetzten Schrei aus, ein wahrhaftes Heulen, und fiel wie vom Blitz getroffen der Länge nach hin. Sein Kopf schlug dumpf auf den Boden. Sein Atem war nicht mehr zu hören.
Lange Minuten vergingen, bis Séraphon einen Schritt aus der Box wagte. Leichen machten ihm Angst, aber da er sich vergewissern musste, dass Wilson noch lebte , fasste er sich ein Herz. Er machte sofort wieder kehrt. Der Lehrling richtete sich auf, als wäre nichts geschehen. Er nahm das Heft, schob es sich in den Mantel und ging in aller Ruhe zum Ausgang.
Plötzlich besann er sich anders. Er wandte sich um und schlenderte zur alten Mähre hinüber. Er streichelte ihr über das Gesicht und steckte ihr spielerisch den Finger in die Nüstern, so dass das Tier niesen musste. Dann drehte er den Oberkörper und ballte neben seiner Hüfte die Hand zur Faust: »Mit schönem Gruß von Amadeus«, sagte er lächelnd und schlug der alten Stute dreimal mit voller Kraft aufs Maul. Das Tier bäumte sich auf. Schwarze Tropfen spritzten Séraphon ins Gesicht, er wischte sich die Wange ab: Es war Blut. Wilson verschwand und lutschte sich dabei die Handgelenke ab.
Séraphon rannte zum Fenster. Die Nacht umhüllte Wilsons Gestalt. »Gleich morgen früh setze ich ihn vor die Tür!«, sagte er zu sich und verließ den Stall erst, als am anderen Ende des Geländes ein Licht aufschien, um sicherzugehen, dass der Lehrling wieder in seinem Schuppen war, dessen Wände übersät waren mit kleinen Ikonen, Zweigen,
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