Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Kruzifixen und Bildern der Heiligen Jungfrau Maria.
* * *
Anfangs war er erstaunt gewesen, dass in der Schule alles rechtwinklig war, die Flure, die Schulordnung, der Spielplatz, die Überdachung des Schulhofs. Man bewegte sich ausschließlich in Reihen, die die geometrische Strenge der Lehrsätze hatten, deren geheimnisvolle Formeln er manchmal durch einen Türschlitz auf der Tafel der Großen erhaschte. All das, was er mit seinem ganzen Wesen in sich aufsaugte, der Geruch der Bücher, der Kreidestaub, die Nationalhymne, die nach dem Morgengebet in aufrechter Haltung vor dem Pult gesungen wurde, die Durchtriebenheit der Großen und ihre mit Anspielungen gespickten Sätze; auch der unerbittliche Stundenplan, in dem jede Minute fest verplant war, die Brutalität einiger Klassenkameraden, die ihn nächtelang nicht schlafen ließen, und alles andere, das Stirnrunzeln der Lehrer, die Buchstaben und Zahlen, die sie abschreiben mussten, Bibelgeschichte, Grammatik, Rechnen, Katechismus, schließlich das nervöse Treiben in den Pausen, all das erschien ihm wie ein einziges kaltes Gleißen, scharf und reizend wie ein starkes Riechsalz, das ihm vorgehalten wurde, um seinen Geist seinem Zuhause, dem süßen Traum der frühen Kindheit zu entreißen.
Im September, gleich in der zweiten Woche, ereignete sich etwas Unvergessliches. Es war die Rede von der Seele gewesen, aber mit Worten, die ihm so fremd waren, dass er sich fragte, ob er selbst eine hatte. Dann begriff er, dass er das, was man Seele nannte, jeden Morgen an der Schultür zurückließ wie einen Mantel an der Garderobe und erst nachmittags um vier wieder abholte. Die beiden Pfarrer waren hinausgegangen, nachdem sie die Schüler gesegnet hatten. Um das allzu grelle Licht, das durch die Fenster fiel, zu dämpfen, hatte dieLehrerin die Jalousien heruntergezogen. Und da die Fenster bis zur Decke reichten und die Decke sehr hoch war, hatte sie eine Stange benutzt, die ihm bis dahin immer geheimnisvoll erschienen war.
Das gelbe Tuch der Jalousien war übersät mit Schimmelflecken. Die Sonnenstrahlen, die durch sie hindurchdrangen, waren von einer unverhofften, magischen Sanftheit. Ein Glücksschauder durchfuhr seinen Körper. Es war, als würde man an einem Sommermorgen in einer Orange sitzen. Seine Schulkameraden verschmolzen nicht mehr zu einer anonymen Masse, er war einer von ihnen, beheimatet in derselben Welt, demselben Garten wie sie. Jeder war allein er selbst, genau wie er, und alle waren sie gemeinsam hier. Wie konnte es solche Schönheit, solche Innigkeit geben …? Zum einen gab es das Licht, das trennt, das Umrisse hervortreten lässt und Unterschiede betont, das Licht der Zahlen und der Grammatik, der Flure und der Schulordnung, zum anderen das Licht, das die Wesen zueinanderführt, das warm, lebendig und von überwältigender Zärtlichkeit ist. Er empfand diesen Moment als ein tiefes Angenommensein, wie am ersten Morgen der Welt, und ihm kam an diesem Tag die Offenbarung, dass er, Remouald Bilboquain, auf der Welt war, um diese beiden Lichter in sich zu versöhnen.
Der Gedanke keimte in ihm mit der Langmut der Pflanzen. Lange Zeit war er der fleißige, unauffällige, schüchterne Schüler gewesen, der unbemerkt blieb und über seine Zukunftsblumen sann.
Aber mit elf Jahren hob er plötzlich den Kopf und begann zu sprechen.
Die Lehrer begriffen nicht immer den Sinn seiner Fragen. »Wie kommt es, dass jedes Ding eine linke und eine rechteSeite hat?« Dass zwei Hände gleich und doch gegensätzlich waren, fand er, wenn er genauer darüber nachdachte, wirklich erstaunlich. Die Lehrerin war in das Lachen der Klasse eingefallen. Remouald schaute mit hochrotem Kopf zu Boden.
Sein Lieblingsfach zu dieser Zeit war Geometrie. Die Dinge, die sie lernten, stürzten ihn in verwirrende Überlegungen. Er wollte begreifen, weshalb der Satz des Pythagoras, der ihnen an der Tafel mit Zahlen und Figuren erklärt wurde, die seinem Kopf entstammten, dem Lehrbuch nach auch auf die Balken eines Dachstuhls angewandt werden konnte. Der Lehrer wiederholte ungeduldig den Beweis, den Remouald schon verstanden hatte. Darum ging es ihm nicht. In seinem Kopf wurden Gesetze aufgestellt, völlig frei eine abstrakte, ideale, mathematische Welt erschaffen, und in der Wirklichkeit waren die Dinge ganz genau so wie in der Vorstellung – war das nicht ein Wunder? Der Lehrer beendete die Diskussion, indem er sagte, das sei notwendigerweise so. Entsetzt von diesem Wort ging Remouald aus der
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