Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Klasse.
In den Pausen schlenderte er oft abseits der ballspielenden Kameraden gedankenverloren über den Schulhof. Manchmal prallte ihm burlesk ein Ball an den Kopf, dann blieb er verwirrt und gekränkt stehen und musste sich die sarkastischen Kommentare seiner Mitschüler anhören – so wie das eine Mal, als er vor dem Pissoir gestanden war und ihn ein Großer an den Schultern gepackt und herumgedreht hatte. Mit hängendem Kopf war er unter allgemeinem Gelächter geflüchtet.
Er wollte seine Mitschüler lieben und von ihnen geliebt werden, genau wie alle anderen, vielleicht etwas mehr als alle anderen, aber überall standen unbegreifliche Mauern, lauerten Fallen, in die er zur Belustigung der anderen hineintappte, und stets bekam er, ohne zu wissen warum, von denLehrern vorgehalten, menschenscheu zu sein, nicht auf seine Kameraden zuzugehen. Der Direktor ließ ihn in sein Büro rufen. Remouald beantwortete ohne Umschweife seine Fragen, legte weit über die Form hinaus eine Höflichkeit an den Tag, die von wirklichem Respekt für die anderen zeugte, und beeindruckte den alten Mann schließlich mit seiner kurzen, sehr überzeugenden Erläuterung, dass sich alle Tugenden auf eine einzige zurückführen ließen, auf die Liebe. Der Direktor schloss daraus, dass der Verstand des Kleinen in keiner Weise gestört war. »Er ist ein begabtes Kind, seine Fähigkeiten wachsen ihm ein wenig über den Kopf, was ganz normal ist: das Alter wird es richten.« Die Monate vergingen, und nichts änderte sich, nur seine Fragen, die ihn noch tiefer in einsame Rätseleien verstrickten. Aber es wurden keine Bälle mehr nach ihm geworfen, seine Mitschüler nannten ihn nicht mehr Mademoiselle Pipi. In seinem wenngleich noch immer sanften Blick lag jetzt etwas, das ihm ohne sein Wissen zugute kam und das alle Bösartigkeit in Schach hielt.
* * *
Bei Ausbesserungsarbeiten war sein Vater, ein Zimmermann, vom Dach gefallen, mehrere Wochen bangte man um sein Leben. Remouald musste nächtelang seine Mutter trösten. Er flüsterte ihr ins Ohr: »Er schafft es.« Er dachte an die Linien für Sommer und Weihnachten und sagte sich, dass es keine Lüge sein konnte ...
Remouald Bilboquain konnte noch nicht seinen Namen schreiben, als sein Vater ihm schon beibrachte, wie man auf dem Fußboden die Jahreszeiten ablas. Im Wohnzimmer gab es eine Diele, um den Beginn des Sommers anzuzeigen, in derKüche eine für die Weihnachtsfeiertage. Die Genauigkeit, mit der die Sonne den Vorhersagen seines Vaters Folge leistete, machte Remouald sprachlos: Genau bis hierher reichten am Weihnachtsmorgen die Strahlen, die durch das Fenster fielen.
Während er bei seinem Vater wachte und sich mit einer Mischung aus Angst und Liebe vergewisserte, dass sein Atem die Brust noch hob, dachte er an die Linien für Sommer und Weihnachten. Sie erschienen ihm als ein Zeichen des Vertrauens, sie verbanden ihn mit dem Lauf der Jahreszeiten, die unabänderlich waren wie die Gesetze des Dreiecks oder die Herzensgüte Jesu. Das Leben ging seinen Gang, alles kam zu seiner Zeit und seiner Stunde wie die Müdigkeit am Ende eines langen Tages und die Sonnenstrahlen auf den Dielen. Es gab noch so vieles, das sie gemeinsam unternehmen wollten, Remouald war noch so jung, dass der Tod seines Vaters ein Verrat an der Harmonie der Jahreszeiten gewesen wäre. Remouald Bilboquain sagte sich das immer wieder. (Obwohl er sich erinnern konnte, dass es schon einmal an einem Julimorgen geschneit hatte. Aber er versuchte, nicht daran zu denken.) Er fuhr mit der Hand das Bett entlang und ergriff die Hand seines Vaters.
Der Zimmermann überlebte. Aber er hatte Schwierigkeiten zu laufen und konnte einen Arm nicht mehr benutzen. Als Erstes bedauerte Remouald, dass sein Vater sich nach der Schule nicht mehr mit ihm auf dem Schoß vor die Waschschüssel setzte, um ihm die Hände zu waschen. Wenn er traurig war, weil er in der Schule eine Ungerechtigkeit erlitt, gab ihm die Berührung dieser rauen Hände eine Art tröstendes Versprechen und neue Zuversicht ins Leben.
Aber Remouald ließ sich seine Verbitterung nicht anmerken. Jeden Abend wiederholte er den Unterrichtsstoff, machte seine Hausaufgaben und setzte sich dann zu seinem Vater. Dererzählte nun nicht mehr, wie er Célia kennen gelernt hatte, als sie noch keine vierzehn Jahre alt war, und wie sie aus Liebe mit ihm geflohen war. Er berichtete nicht mehr von den Zwischenfällen bei ihrem Ausbruch, vom letztlichen Einverständnis ihres Vormunds und
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