Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
glaubten sie oft, sie sei seine ältere Schwester. Zudem waren ihre Gesichter einander verblüffend ähnlich, vor allem ihr sanfter Blick. Célia warüberzeugt, dass Gottes Finger Remouald bei seiner Geburt berührt hatte. Vor sechs Monaten hatte er begonnen, ihr das Alphabet beizubringen. Sie lachte vor Erstaunen, dass sie jetzt Wörter lesen konnte.
Es wurde entschieden, ihr die Wahrheit zu verschweigen. »Je weniger sie weiß, desto besser für sie«, verfügte Dr. Rocheleau. Cadorette erhob Einspruch. Doch seine Oberen erteilten ihm den Befehl, auf den Arzt zu hören.
Für das Fest der Unbefleckten Empfängnis war Célia zu Verwandten ins Reservat gefahren. Bei ihrer Rückkehr warteten Pfarrer Cadorette, zwei Nonnen und Dr. Rocheleau in ihrer Küche auf sie. Célia lächelte verkrampft. Wo war denn ihre kleine Familie?
Cadorette schaute sie mit einem Ausdruck tiefen Mitgefühls an. Eine der beiden Nonnen legte sanft die Hände auf ihre Schultern und beugte sich zu ihr hinunter.
»Sie müssen jetzt tapfer sein, Madame.«
Célia stieß sie von sich.
»Sagen Sie mir, was passiert ist! Wo ist Remouald? Remouald!«
Die Besucher schwiegen.
Sie stürzte ins Zimmer ihres Sohnes. Die Kommode war ausgeräumt worden, die Truhe, die Schubladen … Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie aus dem Zimmer trat.
Sie lief durch die ganze Wohnung. Dr. Rocheleau gab den Schwestern mit dem Kinn ein Zeichen. Sie nahmen sie am Arm und setzten sie auf einen Stuhl. Der Arzt bereitete eine Spritze vor. Célia wehrte sich. Der Pfarrer erhob sich mit schweren Schultern und ging hinaus ...
Von nun an waren fortwährend Nonnen im Haus, die sich an ihrem Krankenbett abwechselten, sie wenn nötigfestbanden, wenn sie wieder einen ihrer Anfälle bekam. Sie wurde mit Spritzen ruhiggestellt. Das Medikament versetzte sie in einen Zustand völliger Starre. Seltsam lächelnd murmelte sie irgendwelche Namen vor sich hin. Mit Tränen in den Augen zogen die Nonnen sich zurück.
Etwa ein Jahr ging die Behandlung so weiter. Nachdem die Ersparnisse der Familie aufgebraucht waren, wurde für Célia eine kleine Kammer im Kloster besorgt. Sie sprach im Grunde mit niemandem mehr. Der Arzt befand, es sei an der Zeit, das Medikament abzusetzen. Die Verfassung der jungen Frau verschlechterte sich. Sie verbrachte ihre Tage zitternd und tobend: Wie eine Furie sprang sie Dr. Rocheleau ins Gesicht, wenn er zur Visite kam. Dann beruhigte sie sich und blieb eine ganze Woche nahezu lethargisch. Die abschließende Diagnose des Arztes lautete: »Sie erholt sich nicht mehr.« Er bedauere, dass er nicht mehr für sie habe tun können.
Aber wider Erwarten besserte sich ihr Zustand. Sie hatte wieder begonnen, selbst zu essen, ohne dass man mit ihr ringen musste. Auch konnte man ihr kleinere Aufgaben anvertrauen. Sie wischte Staub, räumte auf und schien schließlich ruhig genug, dass man daran denken konnte, sie aus dem Kloster zu entlassen. Ihr wurde eine Anstellung als Reinemachfrau besorgt und eine winzige Unterkunft in einem Dachgeschoss.
Jeden Morgen ging Célia mit ihren Kübeln und Wischlappen bestückt hinaus. Das Privatleben ihrer Kunden war ihr gleichgültig, was diese bei einer Reinemachfrau für einen Segen hätten halten müssen, hätte nicht ihr geisterhafter Eifer sie in unangenehme Situationen gebracht. Célia empfand keinerlei Achtung vor der Intimsphäre anderer Menschen und behandelte sie beinahe wie Möbelstücke. Einmal erschien sie mit ihrem Feudel im Esszimmer der Kirchendiener; der verdutzteNotar sollte die Quanten heben, während sie das Parkett unter dem Tisch wischte. Dabei speiste der Notar Robidoux gerade mit dem Bischof zu Mittag!
Die Leute sagten den Nonnen, Barmherzigkeit habe auch ihre Grenzen. Wollte man sie aber entlassen, war sie zwei Tage später wieder da, als wäre nichts geschehen, sogar bereit, die Fäuste einzusetzen, wenn man sie abhalten wollte, das Haus zu betreten. Mehrmals musste die Polizei gerufen werden. Célia wurde dazu genötigt, nur noch kleinere Näharbeiten durchzuführen. Sie begann zu trinken. Zuerst am Abend, dann auch am Morgen. Sie sah jetzt doppelt so alt aus, wie sie war.
Eines Tages kam Séraphon zu ihr, um die Miete einzufordern, die sie seit Monaten nicht bezahlt hatte. Offenbar wusste sie nicht, wer er war. Da sie keinen Sou besaß, bot sie ihm an, Hausschuhe, Wollmützen, Decken für ihn zu stricken. Séraphon schaute sich um. Im Zimmer gab es nur wenige Möbel, wenige
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