Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Pfeifengeruch lag im Zimmer, und in der Luft schwebten schwere blaue Schwaden. Clémentine schloss daraus, dass er viel geraucht, also viel nachgedacht hatte, und war misstrauisch.
Er bot ihr einen Stuhl an und nahm selbst hinter seinem Schreibtisch Platz. Sie vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen, und richtete den Blick auf das halb ausgetrunkene Whiskyglas.
»Möchten Sie einen?«, fragte er.
»Entschuldigung?«
»Möchten Sie einen Whisky?«
Sie schüttelte den Kopf.
Dann aber hob sie die Schultern und sagte »Ach, warum nicht.«
Für gewöhnlich bot Gandon niemandem von seinem Whisky an. Doch nun empfand er darin einen gewissen Trost und freute sich, mit jemand anderem etwas zu teilen. Er schenkte ihr großzügig ein. Bisher hatte sich Mademoiselle Cléments Beziehung zum Alkohol auf einen Fingerbreit Porto beschränkt, den sie sich gönnte, wenn sie einen Roman zu Ende gelesen hatte. Sie gedachte auf diese Weise im Geiste mit dem Autor in Kontakt zu treten. Sie dachte, genau das müsste ein Schriftsteller tun, wenn er ein Werk beendet hatte: sich einen Fingerbreit Porto gönnen. Dass sie noch nie einen Schriftsteller kennengelernt hatte, gehörte zu den Dingen in ihrem Leben, die sie bedauerte. Und je älter sie wurde, desto mehr Dinge bedauerte sie, so dass allmählich ihr Leben selbst einen Beigeschmack von Bedauern und vertaner Zeit bekam.
Auch hatte sie noch nie zuvor Whisky getrunken. Man konnte jedenfalls nicht sagen, dass sie sterben würde, ohne ihn probiert zu haben! Sie nahm einen ordentlichen Schluckund fand ihn abscheulich. Brennend kroch die Flüssigkeit ihre Kehle hinab. Es war wie ein Schlag in den Magen. Aber endlich konnte sie dem Direktor ins Gesicht sehen.
Bruder Gandon gönnte sich ebenfalls einen kräftigen Schluck, denn der Weg, der vor ihm lag, war weit und steil. Er trank seit dem frühen Nachmittag, was sonst nie bei ihm vorkam. Auf Clémentine wirkte er nicht ganz so entschlossen wie sonst. Mit hängenden Wangen schaute er unschlüssig ins Leere.
»Ich höre«, sagte sie.
Sie war auf alles gefasst.
Gandon zögerte noch. Er hoffte auf einen Zwischenfall in letzter Minute, einen unangemeldeten Besucher oder einen Anruf, den er als Vorwand nutzen konnte, um diese unangenehme Unterredung auf den nächsten Tag zu verschieben.
»Quälen Sie mich nicht länger«, sagte sie.
Der Direktor gab sich einen Ruck.
»Es ist mir sehr unangenehm, Ihnen zu sagen, was ich zu sagen habe, bitte glauben Sie mir. Aber man sagt Ihnen gewisse Dinge nach. Und indirekt damit auch mir. Sie ahnen, worum es geht. Es heißt, Sie sollen den kleinen Guillubart gezielt in die Enge getrieben haben. Das stimmt natürlich nicht, aber so heißt es eben. Und dass Sie Rocheleau und Bradette weiter mit Ihren Verdächtigungen zusetzen.«
Damit hatte Clémentine nicht gerechnet. Etwas in ihr zerbrach. Ihre Gewissheiten begannen zu bröckeln. Was, wenn dieses Gerücht stimmte? Teilweise stimmte? An besagtem Tag war Eugène Guillubart von Clémentine böse überrascht worden. Er hatte kaum Zeit gehabt, die Zeichnungen in seinem Ranzen zu verstecken. Sie hatte triumphierend gelächelt. Hatte sie in diesem Augenblick Gefallen an seiner Angstgefunden? Hatte ihr die Furcht im Blick des Kindes Freude bereitet? Sie wusste es selbst nicht, sie verstand sich nicht mehr. Das Bild der lächelnden Madame Guillubart am offenen Grab drängte sich schmerzlich in ihre Gedanken. Sie trank noch einen Schluck Whisky.
Gandon sah all diese düsteren Gedanken auf ihrem Gesicht vorüberziehen.
»Ich kenne Sie seit vielen Jahren, Mademoiselle, und ich halte Sie für einen Menschen mit außergewöhnlichen Qualitäten, dessen Freundschaft mir äußerst wichtig ist. Ich … ich weiß, dass Ihre Absichten stets die besten sind, bei allem, was Sie tun. Aber in letzter Zeit scheint Ihr Verhalten vielleicht nicht immer ganz angemessen. Sie schaden sich selbst, wie man so schön sagt. Und als Ihr Freund, denn ich bin Ihr Freund, bereitet mir das Kummer, ich würde Ihnen gerne unnötigen Ärger ersparen. Ich meine das ganz ehrlich.«
Sie verzog das Gesicht zu einem vorwurfsvollen Schmollen.
»Was soll das heißen: ›Ich meine das ganz ehrlich‹? Das ist, als würde ich Ihnen sagen: Sie können mir blind vertrauen, ich sage die Wahrheit und würde Ihnen sofort sagen, wenn es nicht so wäre!«
»Machen Sie es mir nicht schwerer, als es ist, indem Sie mir die Worte im Mund umdrehen.«
Ihr Rückgrat krümmte sich unter der Last der
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