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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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Clémentines.
    Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Da es schon Dienstag war, sollte sie sich wohl besser mit dem Gedanken anfreunden, ihn niemals wiederzusehen.
    »Es ist schwachsinnig, sich mit seinem Spiegelbild zu unterhalten.«
    Clémentine hielt kurz inne.
    »Ich hätte es einfach gern gehabt, wenn er mich getröstet hätte wie Papa, als ich klein war … Ich war so klein, dass ich noch Dinge sagte wie: Meine Papa ist schön, meine Papa ist groß, meine Papa ist die beste … Meine Mutter musste darüber lachen … Und dann sagte ich: Mein Papa ist tot … und irrte mich nicht mehr im Geschlecht der Wörter. Wie kalt es hier plötzlich ist … Hätte ich meinen Sohn auch Eugène genannt, wenn er gelebt hätte …? Eugène, wie mein Vater …? Oder hätte ich ihn mein Kind genannt … Meine Liebe, Mein Leben …?«
    Ihr Redefluss verlangsamte sich, verebbte, und es fielen nur noch einzelne Wörter, wie Blutstropfen. Sie begann ihr Gesicht genauer zu betrachten. Es klopfte an der Tür.
    »Mademoiselle Clément, sind Sie hier?«
    Clémentine öffnete die oberen Knöpfe ihres Kleides. Ihr Blick betrachtete sich, vertiefte und vervielfältigte sich in den Augen der anderthalb Clémentines. Sie fuhr sich mit der Hand unter das Kleid. Sie spürte, wie sie sich nach vorn neigte, wie ihr Bild sie unwiderstehlich anzog. Sie öffnete die Lippen undlegte sie auf die kalten Lippen ihres Spiegelbildes. Ihr Speichel schmeckte sauer. Ein sonderbares, hochmütiges Lachen entfuhr ihr, und sie begann vor Entsetzen zu zittern.
    »Mademoiselle Clément? Antworten Sie! Ist alles in Ordnung?«
    Sie richtete sich abrupt wieder auf und merkte, was sie da gerade getan hatte … Die anderthalb Clémentines sahen sie bestürzt an wie eine Verrückte. »Ich werde enden wie meine Mutter! Genau wie sie!« Der Gedanke schoss ihr wie ein Schrei durch den Kopf. Sie stürzte aus der Toilette.
    »Stimmt etwas nicht mit Ihnen?«, fragte Gandon.
    Die anderen Lehrerinnen waren verschwunden.
    »Es geht schon«, sagte sie. »Ich wollte mir nur etwas kaltes Wasser auf die Schläfen tun, mehr nicht.«
    Der Direktor fand, dass sie komisch aussah, sie war kreideweiß und hatte violette Flecken unter den Augen. Es entstand ein langes, nicht enden wollendes Schweigen. Schließlich sagte Gandon:
    »Ich wollte mit Ihnen reden … Ich glaube, wir müssen miteinander reden.«
    Er hatte dies mit sehr ernster, beinahe feierlicher Stimme gesagt, wofür er sich im Nachhinein schämte. Clémentine knöpfte den Kragen ihres Kleides zu. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Sie tätschelte sich kraftlos die Wangen. Jemandem gegenüberzustehen, der einen hässlich findet ...
    »Gehen wir doch in mein Büro, wenn Sie einverstanden sind«, sagte Gandon.
    Sie blieb reglos stehen, die Augen auf den Boden geheftet. Bruder Gandon begann sich ernsthaft Sorgen zu machen.
    »Was haben Sie denn, Mademoiselle Clément?«
    Clémentine schwieg. Gandon wartete angespannt.
    »Ich schäme mich«, sagte sie schließlich.
    »Sie schämen sich? Aber wofür?«
    »Ich schäme mich, vor Ihnen zu gehen.«
    Der Direktor spürte, wie ihm das Herz aus der Brust fiel.
    »Ach, meine Liebe …«
    Er hatte die Hand ausgestreckt. Clémentine verzog leicht das Gesicht.
    »Ich folge Ihnen«, sagte sie und setzte sich in Bewegung.
    Aber dann war doch er es, der ihr folgte. Er wollte nicht, dass sie sein Gesicht sah. Das war ihm nicht mehr passiert, seitdem er achtzehn war. Damals war sein Vater gestorben und die Schule hatte ihn für vier Tage vom Unterricht befreit. Als er sich von seiner Mutter verabschiedete, ohne zu ahnen, dass er sie niemals wiedersehen würde, hatte sie ihm mit kaum hörbarer Stimme gesagt: »Weißt du, dein Vater hat nie verstanden, warum du ihn verachtet hast, nur weil er ein armer, einfacher Arbeiter war …« Gott! Was war das für eine Nacht gewesen.
    Seitdem hatte Gandon nie wieder geweint, er hatte geglaubt, davor gefeit zu sein, stärker als das Leben zu sein. Und doch spürte er in diesem Moment, dass ein einziger Blick der Lehrerin genügt hätte, und er wäre in Tränen ausgebrochen. Ein weinender Mann – er schätzte Mademoiselle Clément zu sehr, um ihr das zuzumuten.
    Clémentine ging mit gesenkter Stirn. Als sie dem Hausmeister begegneten, meinte dieser im Scherz, sie sähen aus wie zwei Gefangene auf dem Weg zum Schafott. Sie verschwanden ohne ein Lächeln am Ende des Flurs.
    »Pfff! Kinderquäler!«, schimpfte der Hausmeister.
    * * *
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