Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Gerechtigkeit, oder der Ungerechtigkeit, sie wusste es nicht mehr. Sie begriff, dass sie sich beugen und letztlich niederschlagen lassen würde.
Clémentine klammerte sich an jenen Teil von ihr, der sich weigerte nachzugeben, an das kleine Mädchen, das sich auflehnte und »Nein« sagte.
»Mir vorzuwerfen, ich würde die Kinder bedrängen! Dabei will ich sie doch nur schützen, vor Gefahren retten!«
»Ich weiß, Mademoiselle Clément, ich weiß. Aber diese Gefahren, von denen Sie sprechen … wie soll ich sagen … existieren vielleicht … vielleicht nur …«
Er suchte nach dem richtigen Ausdruck.
»Nur in meinem Kopf? Los, sagen Sie es!«
»… vielleicht nur in Ihren berechtigten Vermutungen? Denn ich muss gestehen, angesichts der Situation war Ihre Sorge durchaus berechtigt. Doch nun deutet alles darauf hin, dass unser Verdacht glücklicherweise unbegründet war.«
Feinfühlig wie er war, hatte er dabei das »unser« besonders betont.
»Glücklicherweise unbegründet«, wiederholte sie sarkastisch.
Gandon merkte auf.
»Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn die Verdächtigungen begründet gewesen wären, Mademoiselle Clément?«
Darauf wusste sie nichts zu sagen. Sie zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Schläfen ab.
»Trotzdem!«, sprach sie weiter. »Was ist mit dem anonymen Brief, den die Polizei bekommen hat? Und mit meinen eigenen Beobachtungen? Und diesem Bankangestellten? Das müsste schon ein ziemlicher Zufall sein.«
»Wenn wir die Menschen dem äußeren Anschein nach beurteilen müssten, würde es Ihnen … würde es uns als Ersten an den Kragen gehen.«
Die Lehrerin senkte die Stirn. Gandon fuhr fort.
»Außerdem hat der Bankangestellte auch einen Namen: Remouald Tremblay. Das habe ich von Pfarrer Cadorette erfahren. Ich bin übrigens heute bei ihm gewesen.«
»!!!«
»Bei Pfarrer Cadorette, meine ich. Der Arme, eine so wackere Kämpfernatur, sein Anfall hat ihn völlig unerwartet getroffen. Ihn so zu sehen, im Rollstuhl, mit einem Schlag gealtert, glauben Sie mir …«
»Damit haben Sie mir immer noch nicht diese seltsamen ›Zufälle‹ erklärt.« Clémentine malte mit den Fingerspitzen Anführungszeichen in die Luft.
Bruder Gandon schenkte sich bis zum Rand ein. Sie verblüffte ihn ein weiteres Mal und schob ihm das Glas hin.
»Noch ein Schlückchen.«
»Sie sollten vorsichtig sein.«
»Bin ich doch immer«, entgegnete sie, ohne eine Miene zu verziehen.
Der Direktor begann sich seine Pfeife zu stopfen. »Wir kennen die Menschen schlecht«, dachte er trübsinnig. Auf der Streichholzschachtel standen die Worte: »Davies Hotel, Thamesville, Ontario«. Wie war die nur in seine Hände geraten? Nichts war so unstet und reiselustig wie eine Schachtel Streichhölzer.
Eine Rauchwolke quoll aus seinem Mund.
»Diese Zufälle sind, glaube ich, nicht besonders schwierig zu erklären. Jemand hat von Ihren Verdächtigungen Wind bekommen und einen denunzierenden Brief an die Polizei geschrieben. Außerdem, wie viel Glauben soll man jemandem schenken, der nicht einmal den Mut hat, seinen Brief zu unterzeichnen? Solchen Müll bekommen sie dort dutzendweise. Und soweit ich weiß, wird der Name Tremblay nicht einmal erwähnt.«
»Aber wer soll denn von meinen Verdächtigungen erfahren haben? Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, außer mit Ihnen.«
»Vergessen Sie nicht den Feuerwehrhauptmann. Und die anderen Lehrerinnen.«
Clémentine senkte den Blick: Ja, sie hatte den anderen Lehrerinnen davon erzählt und es sogleich bereut. Alte Klatschtanten waren das!
Sie trank den letzten Tropfen und schaute verdrossen ins Glas. Das Getränk hinterließ einen rostigen Geschmack auf ihrer Zunge. Alles täuschte und betrog sie. Auch die Menschen, sogar Bruder Gandon. Ungeniert griff sie zur Flasche und goss sich ein. Rosafarbene Flecken traten auf ihre Wangen.
»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, sagte Clémentine.
Ihr brach der Schweiß aus. Gott, wie heiß es in diesem Zimmer war!
Bruder Gandon hatte erst ein Drittel von dem gesagt, was er sagen wollte, schlimmer noch: Das war das einfachere Drittel gewesen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die zerzausten, unverändert abstehenden Haare und sah aus wie ein Mann kurz nach dem Aufstehen. Er schenkte sich noch Whisky nach, um sich Mut zu machen.
»Die Sache gestern, Mademoiselle. Glücklicherweise war die Bank kurz davor zu schließen, und außer Monsieur Tremblay war nur noch der Direktor da, Monsieur Judith. Können
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