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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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sah. Sobald er allein war, hörte er Ihn durch die Wohnung laufen. Er wusste, dass Er es war. Jedes Mal setzte Er eine neue Maske auf, die des Großonkels, eines kleinen Mädchens oder seiner Colliehündin, die Séraphon mit acht Jahren gehabt hatte, so als wolle Er ihm begreiflich machen, dass er sein ganzes Leben hinter all diesen Wesen immer nur das Gesicht seines eigenen Todes gesehen hatte. Wenn er den Kopf drehte oder die Augen schloss, änderte das nichts, im Gegenteil: Er spürte, wie Er sich an ihn schmiegte und ihn eisig bedrückend umarmte.
    Er vernahm Schritte aus der Küche. Er sah, wie der Schatten an der Wand langsam größer wurde. Er sah Ihn kommen. Séraphon stöhnte auf. Diesmal hatte Er die Gestalt eines kleinen Jungen angenommen. Seine Haare hatten die Farbe frisch geschnittenen Holzes, und auf Brusthöhe hielt Er ein Blatt Papier in den Händen, wie ein Chorkind, das eine Kerze trägt. Der Junge trat auf das Bett zu. Auf dem Blatt stand eine Nachricht:
    Bis bald, jenseits der Lügen .
    Séraphon brach in Schluchzen aus. Die Nachricht war unterzeichnet mit Wilson.

C lémentine Clément hatte sich in der Lehrertoilette eingeschlossen und sie zweifach verriegelt, da sie das zwingende Bedürfnis verspürte, mit jemandem zu sprechen. Sie konnte die Anspielungen der anderen Lehrerinnen nicht mehr ertragen. Den ganzen Tag waren immer wieder Bemerkungen über die übertriebene Strenge »dieses oder jenes Lehrers« gefallen. Schon am Vortag, beim Begräbnis des kleinen Eugène, war sie ostentativ gemieden worden (während Madame Guillubarts schmerzliches Lächeln am offenen Grab allein ihr und nicht den anderen gegolten hatte). Clémentine Clément verachtete diese alten Brillenschlangen, diese kinn- und brustlosen Biester so sehr, dass sie es für notwendig hielt, ihre Verachtung zu beichten.
    Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, und als sie sich wieder aufrichtete, sah sie im Spiegel die anderthalb Clémentines.
    »Ich kann nicht mehr«, flüsterte Clémentine. »Ich muss mit jemandem reden.«
    Die anderthalb Clémentines hörten ihr zu. Bruder Gandon hasste sie, soviel stand fest, ihr Äußeres widerte ihn an. »Ich weiß, ich weiß, es ist unmöglich: Aber ist das ein Grund, mich ständig zu demütigen?« Eine Zeitlang sahen sie sich schweigend an. Zum hundertsten Mal in drei Tagen versuchte Mademoiselle Clément sich dabei zu ertappen, wie ein Straußentier auszusehen. Die Ähnlichkeit mochte offenkundig sein, aberman musste ein anderer sein, um sie zu erkennen, man musste sie in Bewegung sehen, sie laufen sehen, von hinten vielleicht. Sah sie der Feuerwehrhauptmann etwa so? Clémentine schüttelte den Kopf. Seitdem sie vor einer Woche Bekanntschaft miteinander gemacht hatten, war der Hauptmann bereits dreimal bei ihr gewesen. Clémentine wusste nicht, was sie davon halten sollte. Stocksteif und mit übereinandergelegten Händen saß er an ihrem Tisch. Sie bemühte sich, das Gespräch in Gang zu halten, bekam aber nur einsilbige Antworten. Dann wiederum erging er sich unvermittelt in langen, verworrenen Sätzen, in denen es um Gehalt, Ersparnisse, Anlagen mit wenig Zinsen, aber vielen Sicherheiten ging, um Werte, wie er sagte, die man im Rentenalter einmal sehr zu schätzen wüsste. Clémentine kämpfte gegen das Gähnen an. Er versuchte sich an einem faden Kompliment über ihre Inneneinrichtung. Und sagte: »Sie … Sie sind nicht wie die anderen.«
    »Und warum bin ich nicht wie die anderen? Warum sollte ich nicht sein wie jede andere auch? Habe ich etwa drei Augen, zwei Nasen, vier Münder? Wächst mir ein Arm aus dem Kopf?«
    Clémentine senkte die Stirn und seufzte. Sie dachte daran, was am Samstagabend passiert war. Sie hatte geweint, am Boden zerstört von Eugènes Tod, was den Hauptmann völlig zu verschüchtern schien. Er hatte den Kopf zwischen den Schultern eingezogen, als drohte man ihm mit einem Stock. Clémentine hatte geschrien: »Wenn Sie ein Mann wären, würden Sie mich jetzt in den Arm nehmen!«
    »Ich meinte damit, dass er mich in den Arm nehmen und trösten sollte, einfach nur trösten. Wie Papa, als ich klein war … Aber ich ging auf ihn zu und rief immer wieder: Wenn Sie ein Mann wären …«
    Er war aufgestanden, hatte die Hände ausgestreckt und sie zu umarmen versucht. Aber dann hatte sich sein Gesicht leidvoll verzerrt, er stieß sie beiseite und stürmte aus der Wohnung, damit sie seine Tränen nicht sah.
    »Der Ball der Unmöglichen«, sagten die anderthalb

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