Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
lebendiger ist als Sie und ich … Bei mir hat er den Eindruck hinterlassen, dass er nicht mehr ganz richtig tickt.«
»Seinem Brief nach zu urteilen, scheint er mir in der Tat etwas seltsam.«
Sie hatte geglaubt, bei Bradettes Onkel mehr Gehör zu finden, und war zu ihm gegangen. Aber sie hatte kaum ihren ersten Satz gesagt, als dieser sie zu beschimpfen begann. Er war von seinem Stuhl aufgestanden und hatte sie rumpelnd und polternd bis zur Tür verfolgt.
»Zum Abschied hat er mir dann in den Hintern getreten. So war das.«
Gandon stiegen Tränen in die Augen. Seine Hand zitterte vor Empörung, als er das Glas an den Mund führte. Da schmetterte Clémentine hinaus:
»Er hat gesagt, dass ich mit Ihnen schlafe!«
»Wie bitte?«
»Bradettes Onkel. Er hat gesagt, dass ich mit Ihnen schlafe! Und als ich gestern Mittag beim Bäcker war, hat die Bäckersfrau hinter meinem Rücken dasselbe gesagt …!«
Bruder Gandon fragte sich, ob er nicht vielleicht träumte. Er ging um den Schreibtisch und ließ sich auf den Stuhl fallen.
»Niemand sagt das. Das ist unmöglich. So etwas sagen die Leute nicht.«
»O doch, alle sagen das! Seit Monaten! ›Man sieht sie immer zusammen‹, sagen sie. Das ist doch verdächtig. Ja, die beiden treiben Unzucht, sieben Tage die Woche.«
»Halten Sie den Mund! So schweigen Sie!«
Clémentine kicherte in ihr Glas: Es tat gut zu lügen.
»Sie sagen, dass ich Ihren Geruch auf meiner Haut trage! Sie sagen, dass wir wie die Tiere sind! Sie sagen … sie sagen, dass Sie mich bürzeln!«
Sie wusste zwar nicht genau, was das Wort bedeutete; aber sie fand, dass es gut und richtig klang. Er war aufgesprungen, stand mit erhobener Hand vor ihr, wie um zuzuschlagen. Sie brach in ein fürchterliches Lachen aus, strotzend vor Herausforderung. Ihr Lachen entwaffnete ihn vollkommen.
»Sie sind ja betrunken. Und dabei, den Verstand zu verlieren.«
Sie stand so abrupt auf, dass ihr Stuhl umfiel. Ihr Dutt hatte sich gelöst, Haarsträhnen zogen sich quer über ihre Wange, ihre Lippen waren geschwollen. Der Direktor war zutiefst erschrocken. Speicheltropfen flogen ihm ins Gesicht und landeten wie Essigspritzer in seinem halboffenen Mund. Er war zutiefst erschrocken, denn sie war schrecklich schön.
»Los, schlagen Sie mich! Hauen Sie das Straußentier, wenn Sie glauben, die Leute hören dann auf zu reden! Aber siewerden nicht aufhören zu reden und zu sagen, dass wir Geliebte sind! Dass ich Sie seit fünf Jahren liebe, seit dem Tag, an dem ich Ihr Gesicht zum ersten Mal gesehen habe, Ihr Gesicht, das ich so hasse, dass ich nachts vor Hass wach liege! Wie ich den Geruch Ihrer Pfeife hasse, diesen abscheulichen Whisky, Ihren ungepflegten Körper, dem ich noch begegne, wenn Sie nicht in Ihrem Büro sind und ich mein Gesicht in Ihren Mantel drücke, der drüben im Schrank hängt! Und wissen Sie, was die Leute noch sagen? Sie sagen, dass Sie zu mir nach Hause kommen, dass wir eine geheime Abmachung haben, dass Sie von hinten herein dürfen, wenn ich die Lampe in der Küche anmache …! Sie sagen ... Sie sagen, dass Sie mein großer prächtiger Löwe sind! Und sie sagen noch mehr Sachen, die Leute! Wenn Sie wüssten, was die alles erzählen! Sie sagen, dass wir uns zusammen betrinken und dass ich für Sie tanze, für Sie ganz allein, um Sie aufzureizen – sehen Sie, so!«
Sie ging in die Mitte des Zimmers und stolperte fast über den umgefallenen Stuhl. Sie stieß ihn beiseite. Dann ließ sie ihre Arme in Schlängelbewegungen über dem Kopf kreisen. Dazu bewegte sie das Becken, so wie sie sich nach allem, was sie gelesen hatte, den Tanz der Maurinnen vorstellte. Sie verlor das Gleichgewicht und knickte auf ihrem schwachen Bein ein. Auf allen Vieren kroch sie vor ihn und klammerte sich kniend an seine Soutane.
»Sie sagen, dass ich dich liebe, mein Schatz. Und dass ich bald alt bin. Dass ich einmal schön war, und bald alt und runzelig … Hörst du, was sie sagen? Dass ich sterbe vor Liebe zu dir …? Und der Feuerwehrhauptmann ist mir vollkommen egal, hörst du? Vollkommen. Wenn doch alle sagen, dass ich dich liebe! Sag etwas, mein Schatz, bitte sag etwas!«
Schluchzend hämmerte sie mit der Stirn gegen den Bauch des Direktors.
Bis dahin hatte Gandon nur Blitze gesehen und Pfiffe gehört. Plötzlich begriff er, was vor sich ging. Sie zog sich an ihm hoch und stieß ihn auf den Schreibtisch.
Er versuchte, sich zu befreien, aber sie war stark. Ihre Lippen wanderten über seinen Hals, über seine
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