Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
wie ein Spatz, der im Schnee kalte Füße bekommen hat.
Der Eisenbahner wärmte sich am bullernden Ofen die Hände. Besorgt betrachtete er die Wolken am Horizont. »Hoffentlich kommt kein Wind auf«, dachte er.
Drei Pfiffe ertönten, ein klagendes Tier, schreiende Gleise, und im sich kräuselnden Dampf, der von allen Seiten aus der Lokomotive quoll, setzte der Zug sich in Bewegung.
Der Wind blies das tiefe Schnauben einer Stute über den Wald.
* * *
Ächzend zog Remouald den Schlitten, blieb manchmal stehen, um zu den Wolken aufzuschauen. Seit fünfzehn Jahren war er nicht mehr auf dem Land gewesen, alles barst vor Weite und Tiefe, als würde die Nacht, den engen Fluren der Stadt entkommen, sich breit machen. Er schaute geblendet um sich, betäubt von so viel Raum. Es schien, als wäre die Landschaft an den Baumwipfeln am Firmament aufgehängt. Der Himmel reichte vom einen zum anderen Ende der Welt. Es war kein Platz mehr für Leid, kein Platz mehr für niemanden, die großen Urwesen füllten in ihrer Einfachheit und Gleichgültigkeit allen Raum aus, nahmen wieder das ganze Universum in ihren Besitz. Remouald war ein Körnchen Leben, das sich im Unendlichen verirrt hatte.
Er zwang sich, den Wald entlangzumarschieren. Mit jeder Minute wurde es kälter, und dunkler. Der Schnee reichte ihnen bis an die Waden, manchmal sogar bis ans Knie. Streifen von Schnee durchzogen den Himmel, funkelnd, diamanten, und das waren große, namenlose Träume, die in dieser Nacht von niemandem geträumt würden, die aus dem Gefängnis entflohen waren und erhaben und geheimnisvoll über ihre Köpfe hinwegflogen.
Sarah lief, wie es ihr in den Sinn kam, mal hier, mal da, blieb stehen, um große Bewegungen zu machen, als wollte sie den Wolken Befehle erteilen. Remouald bat sie, in seiner Nähe zu bleiben; die Wolken wirkten streng wie Richter, sie waren von aschfahler Farbe, und er hatte Angst um Sarah. Aber die Kleine lief, wie ihr gerade der Kopf stand, in alle Richtungen. Sie hüpfte in die Luft, wie um den Himmel herauszufordern und bis zu ihm hinaufzuspringen. Sie stürzte sich übermütig kichernd in die Dunkelheit, spielte Verstecken mit ihren Kameraden, die nur sie allein sehen konnte.
Bald spürte Remouald weder Kälte noch Müdigkeit mehr. Seine Anstrengung hatte sich in Euphorie verwandelt. Sein Körper hatte sich zu etwas unendlich Freiem verklärt, und er selbst war nur noch ein berauschter Wille. Er lief blindlings, fortgetragen von einer überwältigenden, verrückten Empfindung, von der er nicht genau wusste, was es war, und die ihn mit jedem Durchstoßen der Schneekruste bis zum Knie in den Sternen versinken ließ.
»Wo bringen Sie mich hin?«, fragte Séraphon.
»Nirgendwohin. Nach oben, nach vorn.«
Séraphon kannte die Stimme.
»Bist du das, Remouald? Ach, mein Kleiner. Was ist denn nur los? Wo sind wir? Ich habe Angst.«
Séraphon wartete vergeblich auf Antwort.
»Es gibt so vieles, was ich dir gern sagen würde, Remouald. So vieles … Einmal miteinander reden, mein Kleiner, mein Sohn … Weißt du, woran ich letztens gedacht habe? An den Wandschrank in der Küche … den mit dem Vorhängeschloss … Du hast nie etwas erfahren … deine Mutter auch nicht ... Aber ich muss es dir sagen …«
Seine Stimme war so schwach geworden, dass Remouald ihn kaum hörte.
»Es gibt nichts zu sagen, Papa. Seit zwanzig Jahren nicht mehr. Ich habe eine Verabredung, mehr weiß ich nicht. Eine Verabredung im Haus der Schwüre, im Haus meiner Kindheit.«
Der Wind fuhr in den Schnee und wehte ihn Remouald ins Gesicht. Séraphon schluchzte und bat um Vergebung. Remouald sagte:
»Die Sterne haben das Rennen verloren, Papa. Wir kommen vor ihnen im Himmel an.«
Wie gern hätte er jetzt gelacht wie ein Kind.
»Das heißt, wir sind da?«, fragte Séraphon. »Ist es hier …?«
Die halbe Stunde Schweigen, die darauf folgte, dauerte eine Ewigkeit.
* * *
Am Himmel waren Wolken aufgezogen, die auf die Erde gebettet schienen wie der Körper eines Mannes auf den eines Kindes. Man konnte keine zwei Schritt weit mehr sehen. Sarah zündete ihre Streichhölzer an und steckte sie in den Schnee. Sie funkelten einen Moment lang, dann erloschen sie. Remouald blieb stehen. Er hatte die Kleine aus den Augen verloren. Sachte glitt ihm der Schlitten gegen die Waden.
»Sarah! Ich kann dich nicht sehen! Mach ein Streichholz an! Sarah …!«
Sein Ruf hallte auf allen Höhen des Berges wider, durchzog suchend die Nacht, kehrte mit leeren Händen
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