Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
gleich Séraphon. Der drückte aufgelöst das Gesicht ans Schlafzimmerfenster.
»Sagen Sie ihm, dass ich ihn mit zu mir nehme!«
»Das wird er nicht wollen! Das wird er nicht wollen!«
Sarah hatte angefangen zu weinen. Sie heulte, dass ihr die Halsadern anschwollen, aber aus ihrem Mund kam kein einziger Ton.
»Tja, wenn Ihr Vater nicht bei mir schlafen will, dann nehmen Sie ihn eben mit nach Saint-Aldor!«
Remouald sah panisch aus. Monsieur Judith drohte mit dem Zeigefinger.
»Sie haben keine Wahl, Remouald! Der Zug fährt in dreizehn Minuten. Nehmen Sie den Alten mit!«
Remouald hüpfte auf der Stelle und rang die Hände.
Der Direktor stieg wieder ein und sagte zu Sarah:
»Hör auf zu zappeln oder es setzt was!«
Sarah streckte ihm zur Antwort die Zunge heraus. Der Direktor zog sie mit bösem Grinsen am Ohr, dann trommelte er wieder ungeduldig auf dem Lenkrad herum.
Sarah hatte sich in einem Anfall von Empörung die Mütze vom Kopf gerissen, und als Judith den Geruch ihrer Haareeinatmete, wurde ihm plötzlich merkwürdig warm. Er sah die Kleine an. Eine abwegige, aber doch verlockende Idee schoss ihm in den Kopf. Er richtete sich im Sitz auf. Er schaute hinaus, durch die Wagentür und in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. Dann kniff er ihr lange, konzentriert, wie unter Forschungsdrang in die Brust. Das schmerzverzerrte Gesicht, das Schweigen der Kleinen entfachten in ihm ein seltsames, leicht beunruhigendes Gefühl, das ihm bis in die Fingerspitzen pochte. Jäh ließ er sie wieder los und begann sich mit nachdenklicher Miene am Bart zu kratzen. Hübsche Beinchen auch. »Und wenn ich sie adoptieren würde …?« Der Gedanke, der ihn zunächst amüsierte, ohne dass er ihn ernst nehmen konnte, erschreckte ihn plötzlich, und er steckte den Kopf aus dem Fenster.
»Wird’s bald oder was?«, brüllte er.
Remouald erschien mit dem Rollstuhl auf den Armen und Séraphon obendrauf. Der Stuhl wurde auf der Hinterbank untergebracht, Remouald setzte sich daneben und nahm Séraphon auf den Schoß. Ein neuer Geruch lag im Wagen. Sarah hatte die Beine angezogen und hielt sie mit den Armen umklammert, die Stirn auf den Knien. Sie konnten hören, wie sie leise schniefte. Das Automobil schoss davon.
Sie überquerten das Gelände der ehemaligen Holzhandlung. Im Rückspiegel sah Monsieur Judith Séraphons verstörtes Gesicht.
»Warum kommen Sie nicht mit zu mir, Monsieur Tremblay?«
Der Alte schien nicht zu begreifen, dass ihm die Frage galt.
Remouald wiederholte sie. Séraphon stöhnte.
»Ganz, wie Sie möchten«, sagte Judith.
Sie wurden schon erwartet. Séraphon, Remouald und Sarah wurden in einen Wagen mit Filzballen aus der Spinnerei verfrachtet – sie würden sich also hinlegen können, falls sie schlafen wollten. Sie gaben Sarah, die seit dem Mittag nichts mehr gegessen hatte, etwas Milch zu trinken. Der Direktor dankte dem Bahnhofsvorsteher. Dieser dachte an die Rückstände seiner Hypotheken: »Nichts zu danken, nichts zu danken«, erwiderte er.
Sie hatten sich auf Knien auf dem Boden niedergelassen, Remouald sah Sarah an, Sarah sah Remouald an, und sie lächelten einander zu. Ein Eisenbahner schob die Waggontür ins Schloss.
»Es ist dunkel«, jammerte Séraphon.
»So ist das Leben«, sagte Remouald.
Es ruckte, der Zug fuhr an.
* * *
Sobald er die Schwelle seines Hauses übertreten hatte, vergaß Monsieur Judith die Sorgen des Tages. Die anstehende Versammlung geisterte ihm zwar noch durch den Kopf, aber die Aussicht auf einen Abend ohne die Kleine, allein mit seiner Frau, erfüllte ihn mit Wohlbehagen. Er bückte sich im Flur, um seine Stiefel auszuziehen. Ein Schatten kam angeschlichen und griff ihm zwischen die Beine.
»Kuckuck!«
»Grrr … du kleines Biest! Weißt du, was mit dir passiert, wenn du solche Sachen machst?«
Judith küsste seine Frau in den Nacken und brummte genüsslich wie ein großer Schmusebär. Sie entwand sich kokett seiner Umarmung und verschwand in der Küche. Hautenglag der kurze satinblaue Rock an ihrem Körper. Judith blaffte lüstern.
»Du hast immer noch denselben Arsch wie vor fünfunddreißig Jahren!«, posaunte er. »Komm her, dass ich ihn mir aus der Nähe ansehen kann!«
Ihr helles Lachen schallte durch den Flur.
Trällernd ging er ins Wohnzimmer. Er nahm sich eine Zigarre, spuckte das Ende aus und zündete sie an. Dann schnipste er das Streichholz in das knisternde Kaminfeuer. Er setzte sich aufs Ledersofa, streckte
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