Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
zurück … Remouald nahm wieder das Seil und ging weiter. Er sah keine Spuren mehr im Schnee. Es schien ihm, als würde der Schlitten nichts mehr wiegen.
Plötzlich stieß er mit dem Kopf an einen Baum und verlor das Gleichgewicht. Er begriff, dass er vom Weg abgekommen war, und sah sich um. Es war stockfinster. Das Einzige, was er hörte, war sein eigener Atem.
Schneefall hatte eingesetzt. Er spürte den Schnee, ohne ihn zu sehen, er bedeckte sein Gesicht, seine Schultern, drang in seinen Kragen ein. Er rief noch einmal. Kurz leuchtete zwischen den Bäumen ein Licht auf.
»Hier bin ich!«, schrie er.
Ihn überkam ein Hustenanfall.
Da fiel ihm die Öllampe wieder ein, und er suchte tastend nach ihr. Es war schwierig, sie anzuzünden. In der aufscheinenden Helligkeit erschien Séraphons Gesicht. Sein Fellhut war ihm auf die Wange gerutscht. Er hatte Raureif auf den Lippen und in den Nasenlöchern, das linke Auge war halb geschlossen, mit dem anderen schielte er ins Leere. Seine Haut war steinfarben, mit bläulichen Schattierungen. Remouald richtete sich wieder auf und hob die Lampe über den Kopf.
»Hier, Sarah! Hier bin ich! Komm her!«
Erneut leuchtete in der Tiefe des Waldes ein Licht auf. Fast augenblicklich erlosch es wieder.
»Halt dich gut fest, Papa, jetzt wird’s etwas holprig.«
Remouald nahm das Seil und zog den Schlitten in den Wald.
Wieder erschienen die Lichter, weit verstreut und launenhaft. Sie leuchteten hinter ihm auf und zwangen ihn, wieder umzukehren. Sie tauchten die Baumwipfel wie Elmsfeuer in rote Glut. Er stürzte Gräben hinunter, strauchelte, schürfte sich Gesicht und Finger an den Tannennadeln auf, ging beharrlich weiter. Mehrmals wäre um ein Haar der Schlitten umgekippt. Dann erreichten sie eine Lichtung.
Umgeben von Dickicht stand dort eine verfallene Hütte, eine Holzfällerhütte. Der Boden war aus Erde, das Dach an vielen Stellen löchrig, das einzige, was sie beherbergte, waren ein paar Reisigbündel. Er war so lange marschiert, dass er keine Ahnung hatte, wo er sich befinden mochte. »Sarah kommt bestimmt zurück«, sagte er zu sich, »sie sieht sicher unser Licht.« Es hatte aufgehört zu schneien. Er vertraute. Genau hier hatte er landen sollen. Seit zwanzig Jahren hatte er hier eine Verabredung.
Séraphons Kopf war durch den Schnee und das modrige Laub geschleift: Er war halb vom Schlitten gerutscht. Remouald zog ihn wieder hoch, mummte ihn in den Pelz ein, der sich bis zum Nabel hochgezogen hatte, und gab ihm die Lampe.
»Ist dir kalt?«
Er hatte sich in einiger Entfernung hingesetzt und den Rücken an einen Stamm gelehnt.
Er fragte noch einmal:
»Ist dir kalt?«
Séraphons Körper hatte die Konturen des Schlittens angenommen. Sein Hals hing vornüber und das Kinn lag ihm auf der Brust. Remouald kam es vor, als läge ein abgetrennter Kopf neben der Lampe auf dem Tisch.
»Du wolltest doch mit mir reden, hm? Tja, ich könnte dir auch etwas erzählen, mein lieber Séraphon.«
»…«
»Wir haben Sarah verloren, und sind selbst auch verloren, aber das spielt keine Rolle mehr. Hörst du, Séraphon?«
Es folgte ein langes Schweigen. Durch die schiefen Bretter im Dach schickten die Sterne ihr Licht. Remouald spürte immer weniger seine Glieder, die langsam von der Kälte erfasst wurden. Es war schön, in diesem Unterholz zu sein, in dieser Hütte, geschützt vor dem weiten Raum, vielleicht sogar vor der Zeit. Nichts hatte mehr Gewicht, Gedanken durchwehten ihn, und jeder von ihnen enthielt ein wenig von ihm. Er hatte nur noch das unbändige Verlangen zu schlafen.
Er drehte sich zu Séraphon. Die Lampe hatte sich geneigt, und das Öl lief heraus. Auf dem Pelz des Alten entzündete sich ein auswachsender Flammenkreis.
»Ich weiß, dass du gesehen hast, was in der Hütte passiertist, als ich mit Wilson gegessen habe. Von da, wo ich saß, konnte ich im Spiegel dein Gesicht im Dachstuhl sehen. Und an dem Abend – ich meine den Abend der Unbefleckten Empfängnis –, mein Gott, wie du Reißaus genommen hast. Ja. Das wollte ich dir nur sagen. Mein Gott, wie du Reißaus genommen hast! … Aber ich nehme es dir nicht übel, Séraphon. Nicht mehr.«
Remouald schloss die Lider. Ja, Sarah würde wiederkommen. Was auch geschah, jetzt wusste er, dass Sarah immer wiederkommen würde. Er meinte ihre Schritte zu hören, dort, im Geäst. Und ein Geräusch von zerspringendem Glas. Remouald drehte den Kopf zu seinem Vater. Mit einem Puff ging Séraphons ganzer Körper in Flammen
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