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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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Heiligen Drei Könige auf dem Weg nach Bethlehem. Zu beiden Seiten der Ebene erhoben sich die Wälder, dichter und dunkler zur Linken, und zur Rechten, weiter entfernt, lichter und mit Ausläufern hinauf in die Berge. Dazwischen erstreckte sich so weit das Auge reichte der Schnee. Häuser waren nirgends zu sehen.
    Der Eisenbahner erklärte Remouald den Weg. Immer geradeaus, über das Feld, etwa eine Stunde Fußmarsch. Sie mussten nur links den Waldrand entlanggehen. Dann würden sie einen Hügel erreichen und dahinter ein riesiges Gebäude mit Spitzbogenfenstern sehen, das einem Kloster glich: das Sanatorium. Es war nicht zu verfehlen. Remouald tat, als höre er zu, aber er hörte nichts. Die Landschaft drang durch Augen und Mund in ihn ein, erfüllte seine Ohren mit Brausen.
    Er hob Sarah, der noch immer der Schlaf auf den Lidern wog, aus dem Waggon. Der Eisenbahner half ihm, Séraphon herunterzuheben. Der alte Mann sah in seinen Biberpelz gehüllt verständnislos um sich. Remouald lud auch den Rollstuhl aus.
    »Das wird nichts«, sagte der Eisenbahner.
    »Was denn?«
    »Ihre Mutter. Sie können sie hier nicht im Rollstuhl herumkutschieren. (Der Mann spuckte seinen Priem Kautabak aus.) Es gibt Stellen, wo Sie bis zum Knie im Schnee versinken. Mit dem Rollstuhl kommen Sie da nicht weit. Verstehen Sie, was ich sage?«
    Remouald schwieg. Er schaute hinauf zum Mond. Zitternd, voll leuchtender Falten, wirkte er wie in den Bergen vergessen, liegengelassen wie ein Glaspantoffel.
    Das Einzige, was sie hörten, war das Schnaufen des Zuges.
    »Warten Sie, eine Sekunde«, sagte der Eisenbahner, »ich habe eine Idee.«
    Er ging nach vorn zur Lokomotive. Remouald sagte zu Sarah:
    »Meinst du, du kannst laufen?«
    »Wo sind wir?«, fragte Séraphon.
    Der angsterfüllte Satz war das Erste, was er seit ihrer Abfahrt gesagt hatte.
    Sarah beruhigte Remouald.
    »Und dir ist nicht kalt? Ganz bestimmt nicht?«
    Sie verneinte.
    »Wo sind wir?«, wiederholte Séraphon.
    »In der Hölle«, antwortete Remouald.
    Sein Vater wand sich in seinem Stuhl wie ein Wurm.
    Der Eisenbahner trug auf seinen Schultern einen Gegenstand mit klaren Konturen herbei. Einen Schlitten.
    »Damit geht’s sicher besser.«
    Er stockte.
    »Bringen Sie eigentlich Ihre Mutter oder das Mädchen ins Sanatorium?«
    »Kinderschlafanzüge«, antwortete Remouald, »mit aufgedruckten Noten.«
    Er schaute zum Himmel.
    Der Eisenbahner verzog misslich das Gesicht, nach dem Motto: »Ich will nichts gesagt haben«.
    »Na, hier ist jedenfalls das Seil. Damit können Sie den Schlitten ziehen.«
    Remouald dachte lange nach, dann fragte er:
    »Und der Rollstuhl? Was machen wir damit?«
    »Ich kann ihn im Dorf lassen, dann können Sie ihn morgen dort abholen.«
    »Morgen sind wir nicht mehr da.«
    »Ich kann ihn auch mit nach Montréal zurücknehmen, wenn Sie wollen. Ich gebe ihn Ihrem Freund, dem Bahnhofsvorsteher.«
    »Sagen Sie ihm, er soll ihn zu Pfarrer Cadorette bringen.«
    Der Mann versprach es.
    Sie betteten Séraphon auf den Schlitten. Banden ihn mit Gurten fest. Der alte Mann schaute drein wie ein getriebenes Tier: Wohin brachten sie ihn? Wer waren diese Leute? Wo war Remouald …? Sarah spielte währenddessen betrübt im Schnee.
    Es konnte losgehen.
    »Ich rate Ihnen, auf dem Weg nicht zu trödeln. Sehen Sie, was für ein Glück Sie haben. Die Nacht ist sternenklar, die Luft noch einigermaßen mild. Aber beeilen Sie sich, bevor Wolken aufziehen. Sonst sehen Sie nämlich gar nichts mehr.«
    Remouald blickte hinauf zu den Wolken, die sich um sich selbst drehten und sich ungeduldig gegen imaginäre Zügel aufzubäumen schienen.
    »Adieu«, sagte Remouald.
    »Warten Sie noch einen Augenblick.«
    Der Mann ging wieder nach vorn zum Zug. Er kam mit einem Karton zurück und packte ihn aus.
    »Hier. Eine Öllampe. Und Streichhölzer. Die können Sie sicher gebrauchen.«
    Remouald überließ Sarah ein paar von den Streichhölzern. Da er nicht wusste, was er mit der Lampe anfangen sollte, klemmte er sie seinem Vater zwischen die Beine.
    »Adieu, Monsieur.«
    »Viel Glück. Und nicht vergessen: immer geradeaus! So als würden Sie einer Gewehrkugel nachlaufen. Halten Sie sich einfach an den Wald!«
    Sie hörten ihn schon nicht mehr. Der Mann kehrte mit dem Rollstuhl zu seiner Lokomotive zurück. Bevor er wieder aufstieg, warf er ihnen einen letzten Blick nach. Remouald zog mühevoll gebeugt den Schlitten. Sarah lief mal hinter, mal neben ihm, ging im Zickzack, machte kleine Sprünge

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