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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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vor der Zeit, in der er in einer Wiege lag und seine Mutter sich lachend über ihn beugte. Ein ganzes Leben genügte nicht, um dieses Lachen auszulöschen,um die Erinnerung daran auszulöschen, dass er der Grund für diese Freude gewesen war, jetzt begriff er es endlich. Er begriff, dass dieses Lachen das Gedächtnis selbst war und dass das Verbrechen, das er sühnte, vor allem der Wille zu vergessen war. Alles schien ihm klar wie am allerersten Morgen. Er hatte versucht, dieses Lachen zu vergessen. Plötzlich erinnerte er sich an alles, selbst an das Schlimmste, selbst an das Entsetzlichste, mit einer Art Glücksgefühl. Das Grauen, in dem er zwanzig Jahre lang gefangen gewesen war, ließ ihn nun frei, und zum ersten Mal konnte er atmen, ohne zu spüren, wie eine böse Hand – seine eigene – ihm das Herz zusammendrückte. Die Heilige Jungfrau wachte über dem Brand, richtete die Flammen immer wieder mit sanften Griffen wie einen Blumenstrauß. Sein Vater Joachim pflegte ihm jeden Abend, wenn Remouald von der Schule kam, die Hände zu waschen, und nach dem Abendessen tanzten sie Gigue, und seine Mutter saß lachend im Schaukelstuhl am Ofen und klatschte den Takt.
    Die Flammen glitten über Remoualds Haut und streichelten ihn. Er öffnete halb die Augen, schloss sie wieder, öffnete sie erneut, wie ein glückliches Kind, das in den Armen eines Menschen einschläft, den es liebt. Er fühlte sich zwischen zwei Welten: einer Welt, die es schon nicht mehr gab, und einer Welt, die es noch nicht gab und die es vielleicht nie geben würde. Aber welche Gegenwart? Welche Zukunft? Diese Worte hatten keine Bedeutung mehr. Das Feuer bedeckte schon seine Hose und einen Ärmel seines Mantels. Er hatte noch die Kraft, seine Taschen zu durchforsten. Er wollte alles wegwerfen, was darin war, sich dessen entledigen, ganz gleich was es war. Er wollte sterben wie ein Bettler in einer Sagengeschichte, ohne jeden Besitz, den Mantel voller Sterne. Vergebungerfahren. Er holte ein Lotterielos hervor, an das er sich nicht erinnern konnte. Es schien ihm ein großartiges Rätsel, eine Zahl, die womöglich das Geheimnis des Universums enthielt … Er übergab es dem Feuer, dem versengten Gras, fand sich damit ab, dass dieses Geheimnis ihm nicht mehr enthüllt würde – wer konnte schon im Augenblick des Verlöschens von sich behaupten, alles verstanden zu haben …?
    Remouald umklammerte fest die Hasenpfote in seiner Faust, als er entschlief. Und sein Lächeln erstrahlte im Glanz der Erkenntnis.

(Der Anfang dieses Schreibens ist für die Geschichte ohne Bedeutung.)
    A lso, stell dir vor, noch am selben Nachmittag habe ich mich ins Rathaus begeben. Ich gehe nie dorthin, ohne mir Handschuhe überzuziehen (die Türgriffe sind immer fettig), und versuche immer möglichst arglos dreinzuschauen, wie Aladin, der einen Palast aus Tausendundeiner Nacht betritt .
    Eines Tages werde ich, wenn Er Den Es Nicht Gibt mir die Zeit dazu lässt, eine Lobrede auf die Flure schreiben: ihre menschlichen Maße; das Gefühl, dass sie immer irgendwohin führen, dass es Orte gibt, die es wert sind, begangen zu werden. Und dann die Treppen, die sie wie Giraffenhälse verlängern. Die Türen muss man aufs Geratewohl öffnen, um ihren ganzen Reiz auszukosten. Dahinter weisen mir grünliche Wesen mit Schädeln wie Kaulquappen den Weg – immer den richtigen, niemals denselben – und ziehen dabei ihre Mundwinkel hoch. Manche von ihnen versinken, wenn ich mich nähere, noch tiefer, kriechen rückwärts in das feuchte Halbdunkel, wo sich die Laichtaschen und die Archive befinden: Ich störe sie beim Legen ihrer Eier. Weitere Flure (vielleicht dieselben), eine Treppe. Eine Tür zu einem Vorraum, der zu einem anderen Vorraum führt, der vor der Toilette endet – ich erfinde nichts. Zurück zum Hauptflur . Schwüle und Gereiztheit. Ich drehe mich um. Und als ich gerade auf einer Bank niedersinke, die zweifelsohne genau zu diesem Zweck dort steht, mit Schweißperlen auf der Stirn und gebeugt unter der Last der Gottverlassenheit – da plötzlich der Stern von Bethlehem! Ein Schild, und Pfeile … und endlich: DIE Tür .
    Ich gehe hinein. Vorbei an Pulten, an denen ein Galeerenvolk, Schreiber einer heiligen Sprache, die Hände infolge ritueller Anämie rosa gesprenkelt, von unwahrscheinlichen, betörenden, infinitesimalen Ausnahmefällen träumen und den verborgenen Sinn der Dinge erforschen (sie biegen in geheimnisvoller Weise Büroklammern auseinander und wieder zusammen);

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