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Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Titel: Die Unbekannten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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hatte er noch als Vorrat.
    Er zog einen Stoffbeutel aus dem Rucksack und eine Flasche aus dem Beutel. Das Glas fühlte sich in seinen rauen Händen glatt an, glatt und kühl.
    Die bevorstehende Wegstrecke und die Aufgabe, die ihn an ihrem Ende erwartete, erforderten Engagement, Konzentration und Nüchternheit. Er hatte sein Leben damit zugebracht, vor allen dreien zu fliehen.
    Glatt und kühl.
    Wenn man bedachte, dass er achtundvierzig, noch am Leben und nicht im Gefängnis war, konnte man argumentieren, ihm sei es besser ergangen als manchen, die verantwortungsvollere Entscheidungen getroffen hatten als er. Tiefgreifende Veränderungen in seinem Alter könnten das Gegenteil dessen bewirken, was er anstrebte; er könnte Misserfolge und Kummer nicht etwa gegen Hoffnung und Frieden eintauschen, sondern gegen Elend und Verzweiflung.
    Ein einziger Vorfall, ein einziger Moment der Anerkennung in Jahrzehnten eines öden Daseins, rechtfertigte
noch keine Revolution von Herz und Verstand. Zu der Zeit war ihm schwindlig gewesen, sein Kopf hatte geschwirrt und sein Magen hatte sich umgedreht, er hatte in eine Tonne gekotzt, nicht gerade eine Situation, in der seine Wahrnehmungen oder sein Urteilsvermögen zwangsläufig zuverlässig waren.
    Die Tequilaflasche fühlte sich glatt und kühl an, machtvoll und vielversprechend. Sie besaß die Macht des Vergessens und die Verheißung des Todes durch stufenweise Selbstzerstörung. Die Macht des Tequilas durchdrang den Glasbehälter und gelangte in seine Finger, die ihn umklammerten. Sie ließ seine Hand zittern, dann seinen Arm, dann seinen ganzen Körper. Das Zucken ließ Schauer kalten Schweißes aus seinen Handflächen hervortreten und er packte die plötzlich glitschige Flasche mit beiden Händen.
    Obwohl er dringend einen Schluck brauchte, einen großen Schluck, hatte er die Absicht, den Flascheninhalt stattdessen in das Waschbecken im Badezimmer zu kippen.
    Er stand keine sechs Schritte von der Badezimmertür entfernt. Das Waschbecken befand sich ein oder zwei Schritte jenseits der Türschwelle. Acht Schritte. Jetzt schienen acht Schritte eine größere Entfernung zu sein als die, die er von seiner Höhle bis zu diesem Zimmer zurückgelegt hatte.
    Bis auf sein Zittern vermochte sich Tom Bigger nicht rühren. Er zitterte so heftig, dass seine Zähne klapperten und er nur abgehackt ausatmen konnte, aber er konnte keinen seiner Füße vom Boden lösen.
    Er musste einen kurzen Aussetzer gehabt haben, eine Gedächtnisstörung, als er den Verschluss von der Flasche abgeschraubt hatte, denn er konnte sich nicht daran erinnern, dass er die Steuerbanderole abgerissen hatte. Plötzlich lag die Kappe auf dem Boden zwischen seinen Füßen und er hielt die offene Flasche unter seine Nase und inhalierte die Dämpfe des Todes im Leben.
    Eine weitere Absence – wie lange? – ,und plötzlich war der vertraute Geschmack in seinem Mund und das duftende Gift tropfte von seinem Kinn. Die Flasche, die er mit beiden Händen hielt, brachte seine Willensschwäche ans Licht, denn der Flüssigkeitspegel war bereits drei Zentimeter gesunken.
    Zentimeter für Zentimeter würde er die Zukunft verlieren, die Welt, die Hoffnung, die er sich gerade erst kürzlich gestattet hatte, und er wusste, was er tun musste. Er musste die Flasche gegen sein Gesicht schlagen, sie immer wieder dagegenschlagen, bis sie zerschmetterte und sein Gesicht durchstach und zerschnitt, und vielleicht würde er diesmal so viel und so schnell bluten, dass er das Leben endlich hinter sich hätte.
    Aber er war ein Feigling ohne jeden Mumm; sein Selbsthass gab ihm keine Energie, sondern lähmte ihn.
    Die Tür des Motelzimmers ging auf, und mit dem Tageslicht, das hereinflutete, kamen Schreie. Schreie und Schluchzen gleichzeitig, die erbärmlichsten und verzweifeltsten Schreie, die Tom jemals gehört hatte.
    Im Sonnenschein auf der Schwelle stand der etwa siebzigjährige Mann mit der Strickjacke, der Mann von der Rezeption, der ihm einen angenehmen Aufenthalt gewünscht
hatte. Hinter dem Mann stand eine alte Frau mit einem Handy in der Hand.
    Keiner von beiden schrie oder schluchzte, und da begriff Tom, dass er der Ursprung dieses fürchterlichen Klagegeschreis war, eine heulende Sirene, die ihre Qualen, ihren Kummer und ihre Selbstverachtung herausschrie.
    Tom versuchte den Mann von der Rezeption abzuschrecken, aus Furcht, seine rasende Wut würde sich nach außen wenden. In einem weiteren Moment der Umnachtung könnte er die Flasche in

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