Die Unbekannten: Roman (German Edition)
anderen. Dann wieder klopfte jemand leise Rhythmen auf einen Dachbalken.
Henry lief durch das Haus, hin und her, blickte zur Decke, verfolgte die Geräusche und stellte sich Fragen.
Als er im Schlafzimmer im Wandschrank stand, die Bodenluke zum Dachboden anstarrte und dem unermüdlichen Klopfen auf der anderen Seite dieser Luke lauschte, die von unten verriegelt war, beschlich ihn der Eindruck, das Geräusch sei präziser als ein bloßer Rhythmus. Es war ein gleichmäßiger, getragener Rhythmus, der in Strophen unterteilt war. Es war ein Metrum , als verfasse ein Dichter, der oben in der Dachkammer hauste, neue Verse und klopfe beim Schreiben das Versmaß mit.
Nachdem sich dieser Gedanke in seinem Kopf festgesetzt hatte, beschloss Henry, dem Pochen nicht mehr zu lauschen. Er kehrte in die Küche zurück, um sich wieder der Zubereitung seines Mittagessens zuzuwenden.
Später, beim Essen, fragte er sich, wie es wohl an den geheimen Zufluchtsorten sein mochte, wo der Senator und die anderen Machteliten sich verbergen würden, wenn der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung absichtlich herbeigeführt worden war. Er vermutete,
im Vergleich zu dem, was er selbst auf die Beine stellen konnte, würde es sich um weitaus komfortablere Quartiere mit deutlich besserer Verpflegung handeln.
Von den vielen Hunderten von Milliarden Dollar, die aus dem Finanzministerium abgeflossen waren, war nicht alles verschwendet worden. Ein gutes Drittel war geschickt und heimlich auf die Konten derer überwiesen worden, die diese Strategie zur Neugestaltung der Welt ersonnen hatten, darunter zahlreiche Politiker, aber auch viele Unternehmer aus der Privatwirtschaft.
Der Senator und das Rudel, dem er sich angeschlossen hatte, waren nur ein einziges Mal in Panik geraten, als ein Enthüllungsjournalist von der Washington Post berichtet hatte, von einem einzigen Konjunkturpaket seien siebzig Milliarden Kapital verschwunden und von ihnen fehle jede Spur. Aber die Öffentlichkeit schien dem gleichgültig gegenüberzustehen. Und in Anbetracht des Umstandes, dass die von der Post genannte Zahl beklagenswert weit hinter der wahren Summe zurückstand, konnten die Quellen des Reporters nicht innerhalb des Kreises der Verschwörer zu finden sein.
Während dieser Krise, die dann doch keine gewesen war, hatte Henry beschlossen, sich nicht auf Gedeih und Verderb mit dem Senator zusammenzutun, sondern seine eigenen Vorkehrungen zu treffen. Als er jetzt dem Pochen auf dem Dachboden lauschte, dem Pochen, dem er nicht lauschte, fragte er sich, ob er einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte, als er in den Westen gekommen war, um sein Bruder zu werden.
58
Zum ersten Mal, seit er denken konnte, schlief Tom Bigger tief und friedlich. Der Ärger begann, als er erwachte.
Normalerweise strömten Träume aus einem Reservoir von Gehässigkeit und überfluteten den Schlaf. In der Düsternis versunkener Städte und untergegangener Landschaften bewegte er sich unaufhörlich umher, auf dem Weg nach nirgendwo und auf der Suche nach nichts, aber er setzte den Weg und die Suche dennoch in stummer Verzweiflung fort. Aus überschwemmten Straßen, von unermesslichen Hügeln herab, über einsame, luftlose Strecken kamen halb sichtbare Gestalten, um ihn zu bedrohen. Auf seiner immerwährenden Flucht atmete er mit zunehmender Panik Wasser ein, bis er aufwachte und nach Luft schnappte. Im Wachen und manchmal auch im Schlafen hatte er den Verdacht, dass jeder Einzelne von denen, die ihn bedrohten, nur ein verhüllter Aspekt seiner selbst war.
Um 16.15 Uhr am Montagnachmittag, nach einem einzigartig erholsamen Schlaf, erwachte Tom, und die wirkliche Welt kam ihm so luftlos vor wie seine Träume. Ein erstickendes Verlangen drückte ihn nieder. In dieser Verfassung fand er nur in Spirituosen, dort jedoch immer, Erlösung.
Da er nicht fähig gewesen war, seinen rastlosen Geist zu beruhigen, der unaufhörlich um die Erinnerung an den
Vorfall auf der Klippe über dem Meer gekreist war, hatte sich Tom vollständig angezogen auf dem Bett ausgestreckt, ohne Schlaf zu erwarten. Jetzt setzte er sich auf, erhob sich, ging auf die Tür des Motelzimmers zu und hoffte, frische Luft würde gegen das Erstickungsgefühl helfen.
Er war noch einen Schritt von der Tür entfernt, als er sich von ihr abwandte und zu seinem Rucksack ging. In der vergangenen Nacht hatte er eine Flasche Tequila von einer Brücke in ein ausgetrocknetes Bachbett geworfen, ohne davon zu kosten. Fünf Flaschen
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