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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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ihrem Zelt, setzte sich darauf und sah ihm beim Arbeiten zu. Grub sich bis China durch, riss ein Loch in die Erde, um sie wissen zu lassen, wie er sich fühlte. Wie ein kleiner Junge. Sie sollte ihn packen, ihm die Brustwarze in den Mund stecken und ihn so lange wiegen, bis er einschlief.
    Es ging Irene gegen den Strich, dass sie sich dreißig Jahre lang um diesen Mann hatte kümmern müssen. Die Last seiner Klagen und seiner Unduldsamkeit, sein Versagen und, im Gegenzug, seine Unnahbarkeit. Wieso war ihr irgendetwas davon annehmbar erschienen?
    Irene konnte nicht mehr zusehen. Sie stand auf und ging in den Wald. Alles beschattet hier, kühler, die Stämme dichter, jeder Baum mit Forken dürrer toter Äste, dünne gebogene Finger, Überbleibsel vielleicht aus der Zeit, da sie noch viel jünger waren. Peitschten ihr entgegen, als sie sich durchschlug, all das neue Grün viel höher. Fichte und Birke, Bäume, von denen man nach vielen Jahren in Alaska genug haben konnte. Die gelegentliche Pappel mit ihrer raueren Borke, ein paar Espen.
    Enge Pfade taten sich auf wie Gassen, und sie folgte ihnen, Wildpfade. Kleine Flecken Moos und Farn, der Wald still. Irene Jägerin oder Gejagte, so oder so dasselbe Gefühl, dieselbe Wahrnehmung des Waldes, dasselbe Warten auf Geräusch oder Bewegung, dieselbe Wahrnehmung des Atems. Es war wieder Zeit zu jagen, ihren Bogen hierher mitzunehmen. Aber sie wurde jetzt begleitet von dieser neuen Sache, diesem neuen Verrat des Körpers, etwas, das sie nicht angehen, nicht verfolgen, niemals sehen konnte, weil es nicht existierte. Irene stieg höher, erklomm vom Wald verborgene Plateaus und Abhänge, bis sie einen Buckel erreichte, von dem aus es nicht höher ging, noch immer umschlossen, noch immer keine Aussicht, ein Panorama, das da war, doch von allen Seiten blockiert.

S onntag, und Rhoda und Jim hatten einen freien Tag,
    also schliefen sie lange, schliefen miteinander, schliefen noch ein bisschen und lagen dann einfach da. Jim mit geschlossenen Augen, Rhoda mit dem Kopf auf seiner Brust, mit Blick nach draußen. Träge Wellen rollten die Bucht hinauf, ein klarer, sonniger Tag. Schlanke schwarze Fichten, vereinzelt, auf dem flachen Ufer vor dem Strand. Sie waren Rhoda immer wie Menschen erschienen, Vagabunden auf dem Weg zur See hinaus, jeder für sich. Sie konnte sich einen niedrigen Ast als Hand vorstellen, darin ein kleiner Koffer.
    Die Bäume sehen aus wie Menschen, sagte Rhoda.
    Was?, sagte Jim.
    Die Fichten da draußen, wie Menschen, ein bisschen struppig, wie die Whos aus Whoville.
    Hm, sagte er.
    Du guckst ja gar nicht.
    Okay, sagte er und schob sich ein Kissen unter den Kopf. Rhoda rutschte auf seiner Brust nach unten. Die Bäume da draußen?, fragte er.
    Genau.
    Ich glaube, ich weiß. Die Kleinen die Kinder, die größeren die Erwachsenen. Sie haben in etwa die richtige Größe.
    Und wo gehen sie hin?, fragte sie.
    Klingt nach einer gewichtigen Frage.
    Hm, sagte Rhoda. War es nicht. Daran habe ich nicht gedacht.
    Entschuldigung, sagte er.
    Meine Eltern sind so merkwürdig. Versprich mir, dass wir nie so werden.
    Wenn’s weiter nichts ist.
    Rhoda lachte. Das sind Freaks.
    Das hast du gesagt.
    Wann lerne ich denn deine Eltern kennen?
    Weiß ich nicht, sagte Jim. Sie sind nach Arizona gezogen.
    Das ist immer das Einzige, was du von ihnen erzählst.
    Na ja, ich fahre nicht runter, und sie kommen nicht hoch.
    Das ist traurig.
    Nein. Es ist eine zufällige Beziehung, willkürlich. Die hätte ich mir nie als Freunde ausgesucht. Ich mag sie nicht mal.
    Das ist richtig traurig.
    Für mich nicht. Mir ist es völlig egal.
    Hm, sagte Rhoda. Ihr gefiel diese Seite von Jim nicht, kalt und von allen abgeschnitten. Es klang nicht echt, und ganz gewiss passte es nicht zu ihrer Vision von Kindern und trauten Familienszenen. Zufällig und willkürlich.
    Bin ich auch zufällig und willkürlich?, fragte sie schließlich.
    Rhoda, sagte er.
    Im Ernst. Einfach nur, weil ich hier bin und verfügbar?
    Nein. Ich liebe dich. Das weißt du.
    Rhoda richtete sich auf und sah ihm in die Augen. Ehrlich?, fragte sie. Kannst du mir das versprechen?
    Absolut, sagte er und zog sie zu einem Kuss heran.
    Okay, sagte sie und legte sich wieder auf seine Brust. Einige Brusthaare wurden grau. Eine Veränderung im Laufe des vergangenen Jahres, seit sie zusammenwohnten. Und sein Bauch wurde runder, ein kleine Erhebung. Polsterung an den Seiten. Elf Jahre älter als sie.
    Ich mache mir Sorgen um Mom, sagte sie.
    Ja. Ich

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