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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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verlängern, aber er konnte nicht riskieren, zu diesem Eimer zu gehen, um sich die Hände zu wärmen, denn dann würde der Typ neben ihm aufrücken, und Carl würde von jedem neuen Lachs bespritzt. Ein wandernder Kontrolleur prüfte die Temperaturen und vergewisserte sich, dass alle ihre Arbeit machten, aber wenn er neben der Frau gegenüber Carl stand, fand er ihren leeren Blick in den Kadaver offensichtlich ausreichend.
    Für Carl traten hier alle Lebenslektionen offen zutage. Alles, was er bereits auf dem College hätte lernen sollen. Alles, was er über seine Zukunft wissen musste. Im Geiste stellte er die Liste zusammen, während er Blut drückte und Membranen zupfte:
Arbeite nicht mit anderen zusammen.
Arbeite nicht mit den Händen.
Sei froh, dass du nicht als Frau arbeiten musst.
So etwas wie Qualitätskontrolle gibt es nicht. Alle anderen Geschäftsprinzipien sind auchSchwachsinn. Die Geschäftswelt ist der Ort, wo Gedanken und Sprache zugrundegehen.
Arbeit bedeutet nichts außer Geld. Such dir also einen Job, der mehr bedeutet als das hier, am besten etwas, das sich nicht nach Arbeit anfühlt.
    Die wichtigste Lektion war allerdings, dass Carl auf der Stelle verschwinden musste. Fürs Ausharren in einer beschissenen Situation gab es keinen Preis zu gewinnen. Er würde heute Abend seine Mutter anrufen und sie um ein Rückflugticket bitten. Ihm war egal, was das am Ende kosten würde. Hier würde er keinen weiteren Tag bleiben.
    Schließlich gingen alle in die Pause, fünfzehn Minuten nach vier Stunden Lachs. Carl brauchte fünf Minuten, um seine Regenlatzhose auszuziehen und zu pinkeln, dann stand er draußen beim Lagerfeuer. Eine Metallgrube im Lehm, keine Flammen, nur ein paar Kohlen und jede Menge Rauch. Der Rauch blies die meiste Zeit in Carls Richtung und hüllte ihn ein. Er und seine Fischverarbeitungskollegen standen im Kreis und starrten in die Kohlen, einer erzählte von seinem Kneipenstreit und kurzen Knastaufenthalt. Er war heute Morgen rechtzeitig zur Arbeit entlassen worden.
    Meine Ex kommt rein mit diesem bekannten Crackdealer, und das bedeutet, dieser Kerl verbringt Zeit mit meinem Kind. Ich weiß, wer er ist, und er weiß, wer ich bin. Er kommt direkt auf mich zu, und ich mach nichts. Ich sitz einfach da, während er rumlabert.
    Carl konnte sich nur mit Mühe einen Reim auf dieseGeschichte machen, weil der Typ so sanftmütig aussah. Im gleichen Alter wie Carl, ein bisschen feister und kräftiger, hellroter Bart, aber er sah nicht aus wie jemand, dessen Ex mit einem Crackdealer zusammen war.
    Etwa eine halbe Stunde, jedenfalls unfassbar lange, brüllt der mir ins Gesicht. Ich dachte, der hört irgendwann auf, aber nein, also sag ich irgendwann, wir klären das vor der Tür.
    Wir klären das vor der Tür, wiederholte Carl laut. Welch ein Klischee, dachte er leise grinsend, doch niemand schloss sich ihm an. Irritierte Blicke vom Erzähler und von anderen, bloß eine kleine Unterbrechung der Geschichte. Carl ein Außenseiter, wie üblich.
    Ich schieb meine Bierflasche in die Tasche, was er nicht mitkriegt, und als wir draußen sind, hau ich den Hals am Geländer ab und sag ihm, ich bin bereit.
    Die Gruppe war beeindruckt, merkte Carl. Carl war nicht beeindruckt. Er konnte nicht fassen, dass er mit solchen Sponks rumhing.
    Als er die Flasche sieht, hat er die Hosen voll. Wir drehen uns im Kreis, und er traut sich nicht näher ran. Und dann kommen die Bullen, und zwar mein Freund Bill. Ich so, soll ich mir die Handschellen selber anlegen? Er kennt das schon, ist nicht das erste Mal, und sagt so, Alter, du und deine Scheiße immer. Alles cool also. Ich hab auf der Wache übernachtet, und sie haben mich rechtzeitig zur Arbeit rausgelassen.
    Alle blickten noch etwa eine Minute in die Kohlen, kein Kommentar zu der Geschichte, dann war es Zeit,wieder reinzugehen, Ende der Pause. Zurück zu den Innereien.
    Carl diesmal in der Pole Position, jedes Mal, wenn ein Kadaver in der Wanne landete, eine Dusche. Er versuchte, nicht zu zucken. Kalter Schleim im Gesicht und am linken Ohr, im Haar. Es ist bloß Schleim und Blut, sagte er sich. Das lässt sich abwaschen. Er dachte über irgendein kleines Manöver nach, mit dem er dem Betrieb und seinen Kollegen schaden könnte, aber ihm fiel nichts ein. Er war inkonsequent. Er hätte die Arbeitsverweigerung der Frau ihm gegenüber nachahmen können, aber da er schon mal hier stand, würde er auch die Membranen und das Blut beseitigen. Nur noch vier Stunden. Seine rechte

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