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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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den sie kannte, hatte je einen gesehen, also waren sie alsKinder beständig hinter ihm her gewesen und hatten einander mit Schauergeschichten erzählt, was passieren würde, wenn sie ihn fanden. Manchmal stellte sich der Vielfraß tot oder bot seinen Hals dar, aber wenn ein Bär zubeißen wollte, klemmte sich der Vielfraß an dessen Unterseite, biss dem Bären in den Hals und riss ihm mit seinen Rasiermesserklauen den ganzen Bauch auf. Das hatte sie sich als Kind vorgestellt – wie sie einen toten Vielfraß anfassen wollte und der sich erhob und ihr den Magen herausriss. Vor Bären hatte sie keine Angst, weil sie welche gesehen hatte, und sie liebte Tiere, aber einen Vielfraß hatte sie noch nie gesehen.
    Erinnerst du dich an die Vielfraßgeschichten?, rief sie Mark über dem Motorengeratter zu.
    Was?
    Sie wiederholte ihre Frage.
    Ja, klar. Mark lächelte. Damit hast du mir eine Heidenangst eingejagt.
    Rhoda lächelte auch, dann blickte sie wieder zur Insel, die langsam näher kam. Jetzt weiß vor Schnee, und sie konnte sich nicht erinnern, vor wie vielen Jahren sie zuletzt hier gewesen war.
    Ruhiger auf der Rückseite der Inseln, als sie um Frying Pan herum waren. Flaches Wasser, keine Gischt. Wieder kleine Wellen auf der anderen Seite und mehrere Hütten zwischen den Bäumen. Sie hatte erwartet, spätestens jetzt das Boot ihrer Eltern entdeckt zu haben.
    Etwas rauerer Wellengang, Mark drosselte das Tempo. Die Insel steiler, ansteigend zu einem Hügel. Kein Boot am Ufer. Rhoda konnte ihre Eltern nicht finden.
    Fahr langsamer, rief sie Mark zu. Sie müssen hier irgendwo sein. Sie spähte in die Bäume, bekam allmählich Panik. Da war kein Boot. Sie konnten bereits zum oberen Campingplatz aufgebrochen sein. Aber sie konnten auch im Sturm untergegangen sein, ertrunken, oder ihr Boot war abgetrieben, und sie waren gestrandet, und vielleicht war irgendetwas passiert. Hier draußen war nichts. Keine anderen Menschen, keine Hilfe.
    Da drüben, rief Mark und wurde langsamer.
    Wo?, fragte Rhoda. Was denn?
    Ich sehe die Hütte, sagte er, und dann sah Rhoda sie auch. Wie eine Ruine, eine Hütte von vor hundert Jahren, ausgebrannt, ohne Dach. Ein großes Loch als Fenster. Grobe Stämme, von Schnee bedeckt. Dünne Stämme, wie Stöcker. Sie sah ganz und gar nicht aus wie in Rhodas Vorstellung. So klein. Aber das musste sie sein. Ein blaues Zelt und noch ein Zelt, braun, größtenteils verborgen unter einem niedrigen Strauch.
    Sie müssen heute weggefahren sein, sagte Mark.
    Ja, wir hätten zum oberen Campingplatz fahren sollen.
    Das ist kein Weltuntergang. Da fahren wir als Nächstes hin. Aber wir sollten uns umsehen. Ich bin neugierig.
    Ihr Boot könnte sich im Sturm losgemacht haben, sagte Rhoda. Vielleicht sind sie hier. Ich hasse das. Ich hasse es, nicht zu wissen, was mit ihnen ist. Sie könnten genauso gut tot sein.
    Jetzt mach dir nicht ins Hemd. Ich bin mir sicher, dass es ihnen gutgeht. Mark hob den Motor ein Stückweit aus dem Wasser und schaltete ihn aus. Sie trieben langsam an Land, und dann nahm er ein Paddel.
    Wir müssen uns beeilen, sagte Mark. Hier kann man ganz schlecht anlegen. Und ehrlich gesagt bleibe ich wohl besser im Boot.
    Rhoda blickte ins Wasser hinunter, versuchte abzuschätzen, wie tief es war. Sie trug keine Watstiefel. Aber sie musste nachsehen, ob ihre Mutter da war. Also stieg sie aus, sank bis über die Knie ein, das Wasser ein Schock, so kalt. Die Steine waren glitschig, aber sie ging vorsichtig an Land, über den Kieselstrand und hinauf durch Gras und Schnee.
    Mom, rief sie. Dad. Durch Unterholz und Erlen kam sie zu einem Holzstapel mit frischem Sägemehl, also hatten sie noch nach dem ersten Schneefall gearbeitet. Ihre Stiefelabdrücke sichtbar. Mom, rief sie wieder. Bist du hier?
    Die Hütte schief und grob, klein, unglaublich, dass sie darin wohnen wollten. Sie sah verlassen aus, übriggeblieben aus einer früheren Zeit, jetzt offen zum Himmel, aber mit frischem Sperrholz als Boden. Hinten offen. Dort würden sie vermutlich eine Tür einbauen. Das Gesträuch dort überall niedergetrampelt. Ein Coleman-Kocher mit einem Topf darauf. Die beiden Zelte, und jetzt bekam Rhoda richtig Angst. Sie wollte nicht ein Zelt öffnen und wer weiß was darin finden.
    Mom, sagte sie wieder, leiser diesmal. Stand vor dem größeren Zelt und spürte, wie ihr Herz raste. Zog schnell den Reißverschluss hinunter und sah ihre Schlafsäcke, Kleidung, Essen. Niemand da. Keine Leiche. NichtsSchlimmes. Also trat sie

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