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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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dem See würde es kalt werden. Vorausgesetzt natürlich, das Boot und Mark tauchten jemals auf. Sie ging zum Anleger hinunter, ans Ufer. Ein feinerSchneefilm, unberührt. Noch keiner hatte heute die Rampe benutzt. Ihre Eltern höchstwahrscheinlich die einzigen Menschen da draußen.
    Der See fror bereits an den Rändern zu. Klare dünne Eisschichten zwischen den Felsen. Durchscheinend und zerbrechlich, die meisten bereits in kleine dreieckige Scherben zerbrochen. Rhoda tippte eine mit der Stiefelspitze an.
    Okay, Mark, sagte sie und holte ihr Handy raus. Wollen wir mal hören, was du zu erzählen hast. Doch als sie anrief, sagte er, er sei nur wenige Minuten entfernt, also beschloss sie, nett zu sein. Danke, sagte sie. Bis gleich.
    Rhoda war an diesem See aufgewachsen. Es sollte ein Zuhause sein, dieses Ufer. Diese Bäume. Die Berge, die Art, wie die schweren Wolken hereinzogen und die Gipfel in die Erinnerung verbannten. Aber es fühlte sich nicht an wie zu Hause. Es fühlte sich so kalt und unpersönlich an, als wäre sie nie dagewesen. Sie verstand nicht, weshalb sich ihre Eltern hier niedergelassen hatten, weshalb sie nicht wie ihre Freunde an einen schöneren Ort gezogen waren.
    Mark kam in seinem alten Pickup über den Kiesweg, hinter sich einen Trailer. Er machte das Shaka-Zeichen, grinste, umrundete sie in einem weiten Halbkreis und fuhr das Boot rückwärts ans Wasser. Ein offenes Aluminiumboot, gerade mal sechs Meter, mit Außenborder. Der Kälte ausgesetzt, aber groß genug, um sich darin sicher zu fühlen.
    Mark sprang heraus, und Rhoda umarmte ihn. Danke, Mark.
    Hey, sagte Mark. Das ist nur ein Boot.
    Ich weiß, aber ich mache mir Sorgen. Und außerdem glaube ich, dass sie den oberen Campingplatz nehmen, falls sie heute zurückkommen. Wir verpassen sie vielleicht, wenn wir von hier ablegen.
    Na, jetzt sind wir mal hier, sagte Mark. Wir düsen einfach kurz zum oberen, wenn wir sie nicht finden.
    Okay, sagte Rhoda. Sie wollte nicht streiten, wäre aber gern zum anderen Anleger gefahren. Das wäre kein großer Umstand gewesen.
    Mark löste bereits die Riemen. Dann schnappte er sich eine kleine Kühlbox von der Ladefläche und Angelruten.
    Wozu ist das denn?, fragte Rhoda.
    Ein paar Bierchen. Und eine Angel, falls ich warten muss. Man weiß nie, wann Nessie Hunger hat. Zweihundert Meter tief. Wir müssen doch hier unten auch irgend so einen Scheiß-Yeti haben.
    Rhoda wollte lachen oder lächeln oder so, aber sie war zu angespannt. Dieser Ausflug war vielleicht eine Gelegenheit, aber sie brachte es einfach nicht fertig. Sie musste erst ihre Eltern in Sicherheit wissen, dann konnte sie plaudern.
    Na denn, sagte Mark und holte Schwimmwesten. Hier ist deine. Nützt zwar nicht viel. Wir würden erfrieren, bevor uns jemand aufgabelt.
    Danke, sagte sie. Danke, Mark. Ich weiß das zu schätzen.
    Er ließ das Boot zu Wasser und überließ ihr die Bugleine, während er parkte. Dann kletterten sie an Bordund fuhren los, Rhoda im Bug, im scharfen Wind. Die Wellen sehr klein, höchstens dreißig Zentimeter, aber sobald sie etwas schneller fuhren, fühlte sich das Boot lose und wackelig an. Gelegentlich Gischt von der Seite.
    Rhoda suchte Backbord nach Anzeichen eines Bootes, das unterwegs war zum oberen Campingplatz, konnte aber nichts entdecken. Sonst keiner hier draußen. Der See stets größer als erwartet. An diesem Ende ganz von niedrigem Ufer und Bäumen gesäumt, unmöglich, Entfernungen abzuschätzen. Wenn man an einem Ufer stand, konnte man denken, das andere sei nicht weit weg. Erst wenn man in die Mitte kam, konnte man die Größe ermessen, doch selbst dann wechselte die Perspektive ständig. Caribou und die anderen Inseln zunächst kaum sichtbar, und langsam wuchsen sie aus dem Wasser. Zuerst Frying Pan Island mit dem langen Pfannenstiel, dahinter Caribou. Dahinter eine steinigere Küste, das wusste sie, mit Klippen und Felsen, viel hübscher. Jede Bucht dort drüben war so groß, dass sie wie ein eigener See wirkte, und doch sahen sie von hier nach gar nichts aus. Dann der Oberlauf zum Gletscher und dem Fluss, der sich mit den anderen Seen dahinter verband. Sie war seit Jahren nicht mehr dort gewesen.
    Als Kinder waren sie mit ihren Eltern zum Zelten ans gegenüberliegende Ufer gefahren. Steile Kieselstrände vor Wäldern und Bergen. Mark und sie waren über felsige Landzungen gewandert, mit Aussicht auf Buchten zu beiden Seiten, und hatten den Vielfraß gesucht. Ein geradezu mythisches Wesen. Kein Mensch,

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