Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
Vom Netzwerk:
schnell zum anderen Zelt und öffnete es, und auch dort niemand. Gott sei Dank, sagte sie. Und sie machte einen Moment die Augen zu, dass sich der Atem beruhigte, das Herz.
    Jemand da?, rief Mark vom Boot aus, die Stimme dünn. Die Hütte stand ein gutes Stück landeinwärts.
    Nein, rief sie. Keiner da. Sie müssen heute Morgen weg sein.
    Proviant im zweiten Zelt. Werkzeug. Sie konnte nicht fassen, dass sie im Sturm hier draußen gewesen waren. Und es sah aus, als würden sie es durchziehen, als würden sie tatsächlich diese Hütte bauen und den Winter über bleiben wollen. Sie hatte solche Angst. Wenn der See zufror, würde eine Zeitlang kein Boot übersetzen können, zugleich würde das Eis noch nicht tragen. Dann wären sie abgeschnitten, nicht erreichbar, wenn etwas passierte.

I rene zu Hause, in Betrachtung all ihrer Sachen, wusste nicht, was sie mitnehmen sollte. Das Licht war aus, beide nicht mehr gewohnt, Lichtschalter zu betätigen. Porträts ihrer Familie an den Wänden. Alte Porträts, auch von Familienmitgliedern, die sie nie kennengelernt hatte. Strenge Gesichter, Leben unter härteren Bedingungen. Fotoalben in den unteren Regalen des Bücherschranks. Kunstarbeiten ihrer Kinder, von Handabdrücken über Zahlenbilder zu Marks Trommeln aus Elchhaut und Pappel. Er hatte Ringe aus ausgehöhlten Stümpfen gesägt. Hatte hier mit seinen Freunden von der Highschool Mittsommer-Rituale abgehalten, die ganze Nacht am Strand trommelnd und um ein Feuer tanzend, in der Hand ein Stock mit Bärenschädel. Der letzte Eindruck von ihm, bevor er in sein eigenes Leben entschwunden war.
    Rhoda war nicht so weit weggegangen, aber jede Wand trug ein Zeichen jener Zeit, da sie hier gewohnt hatte, da sie zusammen gelebt hatten. Selbst die verstohlenen Zeiten in der Junior Highschool, als sie anfing, mit Jungen zu schlafen, waren hier festgehalten auf Fotos von Bällen und Plakaten von Schulaufführungen. All diese gemeinsamen Jahre waren doch etwas wert, oder nicht? Aber was ließ sich in eine unfertige Hütte mitnehmen, in ein Zelt? Dieser Ort müsste komplettmit Wänden und Fenstern, mit Garten und Wald verlegt werden.
    Ich kann das nicht, sagte sie zu Gary. Sie hörte ihn im Schlafzimmer rumoren, während er noch mehr Kleidung in einen Seesack stopfte.
    Was?
    Sie sprach lauter. Ich kann nichts mitnehmen, was die Hütte zu einem Zuhause macht.
    Ich finde, du machst es unnötig kompliziert, Irene. Wir holen uns nur ein paar Sachen, dann fahren wir in die Stadt, um Deckblech und mehr Kanthölzer und noch einiges zu besorgen, dann versuchen wir, alles aufzuladen und vor Dunkelheit zurück zu sein.
    Heute?
    Was?
    Du willst heute noch zurück?
    Ja, das war der Plan.
    Das war nicht der Plan. Du hast es nicht für nötig befunden, deine Assistentin einzuweihen.
    Irene.
    Ich bleibe heute Nacht hier, in meinem Bett. Wenn du fährst, fährst du ohne mich.
    Gary kam aus dem Schlafzimmer, stellte sich vor sie. Das Wetter könnte wieder umschlagen, sagte er. Dies ist unser Zeitfenster. Jetzt.
    Ich fahre heute nicht.
    Gary knallte die Hand auf die Anrichte. Schön, sagte er. Dann drehte er sich um und ging wieder ins Schlafzimmer.
    Irene setzte sich auf die Couch. Summen in den Ohren, pochender Puls. Sie versuchte sich zu beruhigen, und ihr Herz schlug etwas langsamer, dann aber packte es vier, fünf Schläge lang zu, Momente, in denen sie exakt seine Form spürte, wie es an seinen Arterien hing und in ihrer Brust zuckte. Panik. Panik, als würde sie gleich sterben, dabei saß sie doch nur auf einer Couch in ihrem eigenen Wohnzimmer. Das Licht sanft von draußen, kein Wind, kein Sturm, bloß ein weiterer grauer, verhangener Tag, ihr Mann im Nebenzimmer, und sie fuhren heute Nacht nicht zurück ins Zelt. Sie musste sich beruhigen.
    Wenn wir kein Zuhause draus machen können, warum machen wir es dann überhaupt?, rief sie Gary zu.
    Keine Antwort. Weil sein Leben der Maßstab war, unbestritten. Ihres war das Beiwerk; es spielte eigentlich keine Rolle.
    Irene legte sich ganz auf die Couch, bettete den Kopf auf ein kleines Kissen, schloss die Augen und ließ das Blut rasen. Ein endloses Pochen, Druck, ihr Körper eine harte Hülle, aus der sie raus wollte. Sie wollte Frieden. Nicht länger gefangen sein. Gefangen in diesem Körper und mit Gary und in diesem Leben und dem ewigen Bedauern. Ihr Leben eine Ansammlung all dessen, was sie umzingelte, Fronten, die von allen Seiten heranrückten. Die Herausforderung, auch nur die nächsten fünf

Weitere Kostenlose Bücher