Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
privilegiert. Dass ich herumkam, verschaffte mir nicht nur Vorsprung vor anderen Nachwuchsanalysten, sondern auch viele Kundenkontakte. Diese Erfahrungen brachten mich näher an die Ausführung meiner ersten Transaktion heran.
Das erste Geschäft an der Wall Street ist eine große Sache. Für mich war das ein stolzer Moment, auch wenn die Firma daran insgesamt nur 600 Dollar verdiente – vermutlich weniger, als Goldman Sachs jeden Tag für das Nachfüllen seiner Seifenspender ausgab. Ein Investmentfonds-Kunde, den ich sechs Wochen lang täglich angerufen hatte, beschloss, mich für meine Mühe zu belohnen, und orderte 500 kleine Aktien von South African Breweries (SAB). (Setzte man der Aktienanzahl das Adjektiv «klein» hinzu, hieß das, es waren tatsächlich nur 500 Stück gemeint – und nicht 500 000, wovon ein Trader ohne diese Zusatzinformation ausgehen würde. Rudy ist hoch anzurechnen, dass er die Bedeutung dieses Augenblicks erkannte und beschloss, ihn entsprechend zu würdigen.)
Rudy das Tier war ein «Kulturträger». Und er fand den Anlass wichtig genug, um ihn in klassischer Wall-Street-Manier zu feiern: indem er die Krawatte des Händlers abschnitt und den abgeschnittenen Teil an die Decke hängte.
Es gab da nur ein Problem – ich trug an dem betreffenden Tag gar keine Krawatte.
Dazu muss man wissen: Bis Ende der neunziger Jahre hatten Verkäufer und Händler bei Goldman Sachs stets Anzug und Krawatte getragen, doch während der Technologieblase musste Goldman mit dem Silicon Valley um die besten und fähigsten Bewerber konkurrieren. Die Sitten der New Economy hatten ein bisschen auf die alte Wall Street abgefärbt. (Goldman war da Vorreiter. Bei manchen Banken wie Lehman Brothers galt noch lange danach Anzug-und Krawattenzwang.)
Als mein Sommerpraktikum begann, hatte Goldman seine Kleiderordnung schon von förmlicher «Geschäftskleidung» auf weniger formelle «Bürokleidung» umgestellt. Ein paar übereifrige Praktikantinnen hatten den Bogen aber überspannt und waren in Miniröcken und schwarzen Disco-Hemdchen im Handelssaal aufgekreuzt. Es kam so weit, dass die Personalabteilung eine Rundmail an alle Praktikanten schreiben musste, die klarstellte: «Dies hier ist Goldman Sachs und kein Club Goldman.»
Im folgenden Sommer, als ich fest bei Goldman angestellt wurde, nahm ein Analyst im zweiten Jahr uns Neulinge beiseite und sagte: «Ich will Ihnen einen nützlichen Rat geben», sagte er. «Nur zwei Worte: Brooks Brothers. Das ist die Wall-Street-Uniform.» Und im Großen und Ganzen richteten wir uns alle danach. Man ging los und kaufte sich fünf Paar khakifarbene Anzughosen von Brooks Brothers. Wagemutigere vielleicht auch ein oder zwei Paar von Banana Republic. Ein oder zwei Hosen konnten auch dunkelbraun sein statt khaki. Dazu kamen zehn Oberhemden in unterschiedlichen Blautönen. Bis heute sind solche Kombinationen bei neunzig Prozent der männlichen Mitarbeiter in den Handelssälen der Wall Street Standard.
Ein Partner oder Managing Director von Goldman Sachs trug meist teure, aber unaufdringliche Anzüge oder Kombinationen von Marken wie Brioni (für Herren) – oder Maßanfertigungen aus der Savile Row oder aus Hongkong. Bei Krawatten, Tüchern und Accessoires waren für Damen und Herren Hermès oder Ferragamo üblich. Das ungeschriebene Gesetz für Partner und MDs von Goldman Sachs lautete, sich grundsätzlich dezent, in neutralen Farben und nicht zu protzig zu kleiden. Aber auf jeden Fall sichtlich edel. Ein solcher Anzug hätte mich mehr gekostet als drei Monatsmieten. Deshalb hielt ich mich an die beiden, schon leicht ausgebeulten Brooks-Brothers-Anzüge, die ich mir geleistet hatte, als ich übernommen worden war. Ich trug sie immer, wenn ich mit Kunden zusammentraf – also in der Regel einmal die Woche.
Das Schicksal wollte es aber, dass ich an jenem bedeutungsvollen Tag, als ich mein erstes Geschäft abschloss und meine abgeschnittene Krawatte feierlich an die Decke gehängt werden sollte, lediglich Bürokleidung trug.
Wie jeder gute Manager improvisierte Rudy. Er erhob sich neben mir von seinem Stuhl am Ende einer langen Reihe von Händlern und verkündete den wenigen, die es mitbekamen: «Okay, Springbock, aus gegebenem Anlass schneide ihn Ihnen hiermit einen Knopf ab.» Er winkte mich heran. «Kommen Sie her», sagt er. Er griff nach meinem Hemdkragen (es war zufällig eines der dunkelblauen Hemden, die ich mir für das Sommerpraktikum gekauft hatte), schnitt den
Weitere Kostenlose Bücher