Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
verbargen sich interne Anschlüsse von Mitarbeitern. Wieder andere verbanden den Anrufer mit Maklern wie Hannigan und Johnson an der Mercantile Exchange. (Gespräche mit ihnen wurden bevorzugt auf laut gestellt, denn da bekam man nicht nur die fetten Abschlüsse mit, sondern gleich auch noch die neuesten Gerüchte: Wer nach der Weihnachtsfeier besonders verkatert gewesen war, welche Veränderungen im Management anstanden, wie hoch die Prämien ausfallen würden. Solche Informationen kamen in erster Linie über die beiden Veteranen aus Chicago.)
Jeder Verkäufer hatte zwei Telefone: einen konventionellen Hörer und eine Hörmuschel oder ein Headset. Wenn Corey mit einem Kunden sprach, gab er mir ein Zeichen. Dann drückte ich die Stummtaste an meinem Apparat und schaltete mich zu. Ich hörte alle seine Kundengespräche mit, und am Ende des Tages stellte ich dann Fragen zu den Details, die ich nicht verstanden hatte. Die Sprache der Wall Street, das merkte ich sofort, beherrschte man nicht intuitiv. «Zum Geldkurs kaufen»? «Zum Briefkurs»? Ich bat Corey um Nachhilfeunterricht.
Der Geldkurs, rekapitulierte er, gibt an, wie viel jemand für ein Finanzprodukt zu zahlen bereit ist. Der Briefkurs sagt aus, für wie viel jemand ein Produkt verkaufen würde. Auf dem Markt, so erfuhr ich, gibt es für jedes Wertpapier einen Geld-und einen Briefkurs. Nehmen wir an, ich will 50 Dollar für eine Aktie zahlen und würde sie für 55 Dollar verkaufen. Fragt ein Kunde nach dem «Markt», lautet die korrekte Antwort: «50 Dollar Geld, 55 Brief.» Oder kurz: «50 zu 55.» Nun kann sich der Kunde überlegen, was er tun will. Nehmen wir an, er will verkaufen. Dann sagt er: «Geld.» Das bedeutet, er verkauft mir den Titel für 50 Dollar. Oder aber er will kaufen. Dann sagt er: «Brief.» Das bedeutet, er kauft mir das Papier für 55 Dollar ab.
Dann gab es da noch die Handzeichen.
Obwohl der Handelssaal von Goldman Sachs schon vollständig auf Computer umgestellt war, als ich dort anfing, verwendeten Verkäufer und Händler dort wie anderswo an der Wall Street – und an der Merc ebenso – instinktiv immer noch die Handzeichen für «Brief» (der Käufer zieht die offene Hand zu sich her und schließt sie zur Faust) und «Geld» (der Verkäufer führt die offene Hand von sich weg und ballt sie dann zur Faust). Wer zum ersten Mal das Parkett der Merc betrat, musste sie – so Corey – unweigerlich chaotisch finden. Dabei war das System in Wirklichkeit durch und durch geordnet. Menschen kauften und verkauften Terminkontrakte über Augenkontakt und durch Handzeichen.
Da ich während meiner ersten anderthalb Jahre bei Goldman Sachs nur mit einfachen Aktien gehandelt hatte, war es für Corey ein ordentliches Stück Arbeit, mir meine neuen Produkte begreiflich zu machen. Futures – so mein Lehrmeister – sind die Urform der Derivate. Es gibt sie schon seit Jahrhunderten. Erfunden wurden sie für Landwirte, die sich gegen Ernteeinbußen durch Dürre, Sturm und ungewisse Nachfrage absichern mussten. Zu diesem Zweck trafen sie Vereinbarungen mit ihren Käufern. Statt das Risiko einzugehen, dass ihr Weizen nur 20 Dollar den Scheffel wert sein könnte, wenn sie ihn verkaufen mussten, statt der erwarteten 100 Dollar oder der erhofften 200 Dollar, vereinbarten sie einen Preis von, sagen wir, 120 Dollar pro Scheffel für einen bestimmten Liefertermin in der Zukunft. Sie nahmen in Kauf, dass der festgesetzte Preis zu niedrig sein konnte, sicherten sich dadurch aber gegen die Gefahr ab, dass sie ihr Getreide später gar nicht verkaufen konnten.
Terminkontrakte gab es daher zunächst für die ganze Bandbreite an Rohstoffen wie Weizen, Milch, Orangensaft, Schweinebäuche, Gold, Silber oder Eisenerz, die irgendwann dann auch physisch geliefert werden mussten. Dann kam jemand auf den Gedanken: «Das müsste doch eigentlich mit allem anderen auch funktionieren. Probieren wir es mal mit einer Aktie.» So entstanden Aktienindex-Futures. Man verpflichtete sich, einen Indexwert zu einem zukünftigen Zeitpunkt zu kaufen beziehungsweise zu verkaufen, spekulierte also damit, wo der S&P 500 – oder in Deutschland der DAX, in England der FTSE (sprich: Futzi) und in Frankreich der CAC – künftig stehen würde. Es gab auch Zins-Futures und Währungs-Futures. Die Einführung von Termingeschäften für andere Anlagekategorien sorgte für verstärkte Spekulation, bot aber Investoren auch zusätzliche Möglichkeiten, sich gegen Risiken abzusichern.
Auf den
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