Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Derivatemärkten – und im Grunde auf jedem Markt – gibt es zwei Gruppen von Investoren: die Hedger – Marktteilnehmer, die das Produkt wirklich brauchen und sich absichern möchten gegen Preisschwankungen – und die Spekulanten, also Marktteilnehmer, die von Preisschwankungen profitieren. Die Spekulanten, so Corey, übernehmen für den Hedger freundlicherweise das Preisrisiko. Eine ideale Symbiose. Nur weil es Hedger und Spekulanten gab, so meinte er, würden die Märkte reibungslos und effizient funktionieren und liquide bleiben. Dadurch wurden Käufer und Verkäufer zusammengeführt.
Corey erklärte mir, dass unsere Abteilung zur Hälfte mit Aktienindex-Futures auf den S&P 500 oder den NASDAQ handelte. Die andere Hälfte des Geschäfts entfiel zu rund fünfzig Prozent auf Rohstoff-Futures auf Getreide, Orangensaft und Schweinebäuche und zu fünfzig Prozent auf Währungen und Zinsen – wenn Marktteilnehmer etwa auf den künftigen Kurs von Staatsanleihen, Dollar, Yen oder Euro wetteten.
Als erste praktische Übung ließ mich Corey Informations-Mails über die Ströme (die täglichen Käufe und Verkäufe unserer Kunden) und Trends verfassen, die wir auf dem Markt beobachteten. Diese musste ich dann an die übrigen Mitglieder des Derivate-Teams verschicken. Das war ein gutes Training, denn es zwang mich, in unserem Geschäft Themen zu erkennen. Außerdem hatten mich die anderen aus der Abteilung auf diese Weise schon auf dem Schirm, obwohl ich selbst noch nicht handeln durfte. Die Bedeutung der Versorgung mit einfachen, aber verlässlichen Informationen ist nicht zu unterschätzen. An einem Tag, an dem der Technologiesektor stark nachgefragt wurde, Rohöl abgestoßen und deutsche Index-Futures ge-und verkauft wurden, hätte eine solche E-Mail vielleicht folgendermaßen ausgesehen:
Aktivitäten im Tech-Sektor: 2 : 1 mehr Käufer von März-NASDAQ-Futures (Ticker: NQH3). Rohstoffe: bei März-Rohöl-Futures 5 : 1 mehr Verkäufe. Europa: reger Handel mit März-DAX-Futures in beide Richtungen. Aktiv war eine Mischung aus schnellem Geld [Hedgefonds] und Vermögensverwaltern [institutionellen Investoren]. Fragen richten Sie bitte an die Abteilung.
Die Mails wurden zunächst von Corey gründlich überprüft, doch als er sah, dass ich sehr gewissenhaft arbeitete, vertraute er mir bald. Als Nächstes musste ich lernen, eigene Orders auszuführen.
Es war Anfang Januar 2003 um 6 : 30 Uhr. Die Telefone klingelten bereits – die ersten Kunden wollten handeln. In Europa waren die Märkte seit mehreren Stunden geöffnet. Die asiatischen Börsen schlossen gerade. Ich hatte schon angefangen, Kundengespräche zu führen, Ordertickets auszufüllen und Transaktionen vorzunehmen. Anfangs stand Corey noch hinter mir und verfolgte aufmerksam, wenn ich die Aufträge in unser Handelssystem eingab, das wir «Spider» nannten. Er prüfte meine Ordertickets und vergewisserte sich, dass sie korrekt ausgefüllt waren.
Solche Tickets wurden dreifach ausgefertigt, waren etwa so groß wie Starbucks-Servietten und hatten Kohlepapier zwischen den Seiten. Das Original war weiß, der mittlere Durchschlag rosa, der unterste blau. Jedes Ticket war von oben bis unten durch eine Linie unterteilt. Die linke Hälfte war mit «Kauf» überschrieben, die rechte mit «Verkauf». Rief ein Kunde an, zog man sofort ein Ticket heraus und wartete auf die Order. War sie erteilt, trug man – je nachdem – links oder rechts auf dem Ticket den Namen des Terminkontrakts (oder der Option) und das Transaktionsvolumen ein. Dann schob man das Ticket schnell in den Zeitstempel – ein Gerät, das einer Stechuhr glich.
Es war wichtig, das Ticket unverzüglich abzustempeln, denn man musste genau nachweisen können, wann man die Order vom Kunden entgegengenommen hatte. War der Trade ausgeführt, stempelte man das Formular erneut. Kam es auf volatilen Märkten zu unvorteilhaften Bewegungen für den Kunden, konnte man so schriftlich belegen, dass man den Kunden korrekt bedient und seinen Auftrag bestmöglich ausgeführt hatte. Hatte ein Kunde um 15 : 15 Uhr eine Order erteilt und man hatte sie um 15 : 45 Uhr noch nicht ausgeführt, während der Markt in diesen dreißig Minuten 100 Ticks zugelegt hatte (ein Tick ist die kleinstmögliche Kursänderungseinheit eines Terminkontrakts), konnte das großen Ärger bedeuten.
Während des Handelstages wuchs der Ticketstapel. Am Ende des Tages, wenn alle Tickets abgestempelt waren (und auch der Ausführungspreis auf
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