Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
jedem Ticket vermerkt war), riss man den mittleren Durchschlag aller Tickets zur Archivierung heraus und schickte Original und hinteren Durchschlag an die Compliance-Abteilung weiter, wo sie fünf Jahre lang im Tresorraum aufbewahrt wurden für den Fall, dass ein Kunde Einspruch einlegte oder eine Aufsichtsbehörde Ermittlungen durchführte.
In aller Frühe am nächsten Morgen begann der nächste Handelstag. Es war das kontrollierte Chaos. Unablässig riefen Kunden an. Ständig standen meine Verkäuferkollegen aus der Derivate-Abteilung auf und riefen mir Orders zu, begleitet von den jeweiligen Handzeichen für Kaufen oder Verkaufen. Und solche Aufträge kamen nicht nur von den Händlern. Michael Daffey, der sich gern mit dem Fußvolk ins Getümmel stürzte (und sich so die Achtung von Nachwuchskräften verschaffte, die sahen, dass sich der Chef nicht zu fein war, selbst Hand anzulegen, und genau wusste, was er tat), rief ebenfalls manchmal: «Greg Smith, kaufen Sie mir 2000 Juni-S&P-Futures!» Eine Order über 2000 Kontrakte war auf den ersten Blick vielleicht nicht groß, stand aber für ein Aktienmarktengagement von rund einer halben Milliarde Dollar, was zeigt, wie riskant und wie stark gehebelt Futures sein können. Und jeder wusste, wenn Daffey die Order selbst entgegengenommen hatte, kam sie von Tudor Jones, Druckenmiller, Soros, Novogratz, Bacon oder einem anderen Hedgefonds-Giganten. Daffey liebte den großen Auftritt und brüllte lauter als alle anderen.
Dann musste ich Patrick Hannigan oder Bob Johnson in den Pits der Merc anrufen und dranbleiben. «Also gut, wo stehen Juni-S&P-Futures? Ich brauche insgesamt 2000 Stück, muss aber vorsichtig agieren.» Dann verließ ich mich auf Patricks oder Bobs Schilderung der Stimmung in den Pits. Wurde sie aggressiver? Sollten wir Tempo herausnehmen oder Druck machen? Entsprechend lauteten meine Anweisungen: «Kaufen Sie noch 100. Kaufen Sie weitere 100 zu maximal 950. Warten Sie ab.» Schließlich konnte man schlecht alle 2000 Stück auf einmal kaufen, ohne seine Absichten zu deutlich zu machen. Aufträge dieser Größenordnung konnten auf dem Markt Angst oder gar Panik auslösen oder alle anderen Trader in den Pits zu gegenläufigen Transaktionen veranlassen. Doch inzwischen waren schon wieder zwei weitere Anrufer in der Leitung …
Sprach man gerade mit einem Kunden, während ein anderer, wichtigerer anrief, verlangte das Protokoll, demjenigen, der den Anruf entgegengenommen hatte, ein Handzeichen zu geben. Rief Fidelity an und man wollte das eigene Gespräch rasch beenden und den Anruf durchstellen lassen, signalisierte man das korrekt mit einem erhobenen Zeigefinger für «einen Moment». War das nicht möglich und man wollte stattdessen zurückrufen, drehte man den Finger im Kreis. Einmal hatte ich schon zwei Kunden in der Leitung und alle Hände voll zu tun, als ein dritter anrief. Ich wollte das Rückrufsignal geben, ließ im Eifer des Gefechts aber die ganze Hand kreisen anstelle des Fingers. Ein paar meiner erfahreneren Kollegen fanden das höchst amüsant, allen voran «Mullet». Meine übereifrige Handbewegung wurde schnell bekannt als «der Hubschrauber».
Eines Morgens passierte mir dann ein echter Schnitzer.
Es war halb sieben. Ich trank gerade Kaffee und war eigentlich noch im Halbschlaf, als mich ein Kunde anrief. Es war eine Pensionskasse mit einem Miniauftrag. «Kaufen Sie bitte sieben nächstfällige DAX-Futures.» Versehentlich verkaufte ich stattdessen sieben Kontrakte. So ein Missgriff ist schnell passiert. Man klickt einfach auf die falsche Schaltfläche – auf Verkaufen statt Kaufen. Mir war aber sofort klar, was ich da angestellt hatte, und ich reagierte schnell. Allen Analysten wird eingeschärft, dass man seine Karriere am schnellsten dadurch sabotieren kann, wenn man nicht erkennt, wann man um Hilfe rufen sollte. Man musste seinen Stolz runterschlucken und sagen können: «Hören Sie, ich stecke in der Klemme. Ich brauche Ihre Hilfe – jetzt gleich.»
Also wandte ich mich an Corey, der neben mir am Telefon saß, und sagte ruhig, aber sehr ernst, dass ich dringend seine Hilfe brauchte. Er legte auf. «Sie müssen mir helfen», sagte ich. «Ich habe diese Futures verkauft statt gekauft. Was mache ich jetzt?»
Corey blieb so ruhig wie immer. Wir hatten schon sehr früh gemerkt, dass wir trotz unseres sehr unterschiedlichen Hintergrunds beide die Eigenschaft besaßen, in Krisensituationen gelassen zu bleiben. Er stand auf, stellte
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